Marlene Streeruwitz: „Das Wundersame in der Unwirtlichkeit“

Irgendwann werden Roboter Bücher schreiben

Cover von "Das Wundersame in der Unwirtlichkeit", dahinter ein weibliches Androidengesicht, mit Kabeln, die aus dem Hinterkopf kommen.
Cover von „Das Wundersame in der Unwirtlichkeit“, dahinter ein weibliches Androidengesicht, mit Kabeln, die aus dem Hinterkopf kommen. © S. Fischer Verlag / imago / Science Photo Library
Von Bettina Baltschev |
In ihren Vorlesungen analysiert Marlene Streeruwitz die komplexe Wirklichkeit, in der die Grenzen zwischen analog und digital immer diffuser werden. Die Autorin bleibt auch angesichts der Digitalisierung eine engagierte Verfechterin analoger Literatur.
„Was soll das alles hier?“ Man kann sich gut vorstellen, wie ein entnervter Zuhörer in Paderborn diese Frage in den Saal ruft, mitten hinein in eine Vorlesung von Marlene Streeruwitz. Die Frage, was das alles soll, ist natürlich bei jedem Text berechtigt, wird hier aber überflüssig, wenn man Frau Streeruwitz aufmerksam in ihren Ausführungen folgt.
Das kostet einige Konzentration, die in Zeiten kurzer Aufmerksamkeitsspannen bekanntermaßen nicht jedermanns Sache ist. Deshalb ist es durchaus hilfreich, dass man die Vorlesungen nun noch einmal nachlesen kann, die Marlene Streeruwitz im Rahmen der Paderborner Gastdozentur für Schriftstellerinnen und Schriftsteller Anfang des Jahres gehalten hat. Und so ist man bereits bis zur fünften und letzten Vorlesung vorgedrungen, wenn die Autorin den Rufer von Paderborn in einer hübschen Volte für sich instrumentalisiert.
„In diesem Sinn ist Ihr Zwischenruf ‚Was soll das alles hier.‘ in der dritten Vorlesung einer polizeilichen Intervention zuzurechnen. Was ich aus diesem Ausruf schließen musste, das ist Ihr Unwille, sich mit der Literatur als Form der Präsenz singulärer Körper in jeweils festgelegter Zeit und verabredetem Raum zu beschäftigen.“

Romane in der Digitalität

Damit ist der Ton gesetzt und die Schlüsselbegriffe der Vorlesungen sind in einem Satz gefallen: Literatur, Form, Präsenz, Körper, Zeit und Raum. „Frozen I-V“ sind die einzelnen Vorlesungen überschrieben. Der poetische Buchtitel „Vom Wundersamen in der Unwirtlichkeit“ weicht dabei ab vom eigentlichen, etwas sperrigen Titel der Paderborner Vorlesungen; „Theorie und Praxis der Romane in der Digitalität“. Zusammengelesen bilden die beiden Überschriften aber einen deutlichen Wegweiser, der gleich zu Beginn der ersten Vorlesung von einer eindeutigen Ansage flankiert wird:
„Wir werden Literatur sprechen, nicht über Literatur reden.“
Und Literatur sprechen, das heißt bei Marlene Streeruwitz, ihrem literarischen Stil treu bleiben, mit aufgebrochener Syntax, kurzen prägnanten Hauptsätzen, von denen manche mit nur einem Wort auskommen. Aber. Denn. Nun. Die erste Vorlesung widmet sich zunächst existentiellen Überlegungen zur Organspende bzw. Explantation, wie sie es nennt. Die Autorin fragt sich und uns, ob und wie sich dieses Grenzgebiet zwischen Leben und Tod überhaupt literarisch fassen lässt.
„Wenn aber die literarische Figur in der nun endgültig nicht mitteilbaren Situation des Sterbens ist. Wenn ein phantastisches Folgen der literarischen Figur in diesen Zustand nur jenen Kitsch herstellen könnte, der die Lügen dieser metaphysischen Hoffnungen so schön verstärkt. Wenn also zum Beispiel die literarische Figur einer Explantation ausgesetzt wäre. Es gäbe keinen Text. Es könnte keinen Text geben. Die Autonomie der Person wäre längst beendet. Ein bürokratisches Verfahren hätte ja das Leben dieser Person als beendet erklärt, bevor der Körper gestorben wäre.“
In der zweiten Vorlesung legt Marlene Streeruwitz zwei Werke übereinander, die exemplarisch für den Umgang ihrer Heimat Österreich mit der Geschichte stehen. Der Film „Der dritte Mann“ nach einem Drehbuch von Graham Green und der Roman „Malina“ von Ingeborg Bachmann, in dem das zweite Kapitel ebenfalls mit „Der dritte Mann“ überschrieben ist.

Feministische und kapitalismuskritische Argumente

Auch hier wird eine neue Perspektive auf vermeintlich feststehende Interpretationen eingefordert. Und während die dritte Vorlesung schlicht einen Auszug aus Marlene Streeruwitz‘ Sci-Fi-Roman „Norma Desmond“ umfasst, erfahren wir in „Frozen IV“ endlich, warum wir es hier mit fünf „tiefgekühlten“ Verlesungen zu tun haben. Denn nun widmet sich Marlene Streeruwitz ausführlich dem Walt-Disney-Filmhit „Frozen“.
Mit feministischen und kapitalismuskritischen Argumenten analysiert sie, wie weit sich dieses perfekte Produkt der amerikanischen Unterhaltungsindustrie von seiner Vorlage entfernt hat, der „Schneekönigin“ von Hans Christian Andersen.
„Die Schneekönigin wird verkleinert. Reduziert. Nur ein Aspekt der Schneekönigin findet noch Eingang in die Figur der Elsa. Sie wird Motivträgerin einer ‚coming of age story‘. Die jahreszeitliche Allmacht der Schneekönigin im Kunstmärchen wird zur unbeholfenen Zauberkraft einer pubertierenderweise ihre Kräfte ausprobierenden jungen Frau. Nur noch Elsas Hände besitzen Zauberkraft. Was sie berührt, wird zu Eis. Vor allem aber. Sie kann diese Zauberkraft nicht steuern. Nicht beherrschen. Nicht einsetzen. Sie ist dieser Kraft ausgeliefert.“
In der fünften und letzten Vorlesung schließlich hält Marlene Streeruwitz uns eine gar nicht so ferne Zukunft vor Augen, in der künstliche Intelligenzen – sie nennt sie technische Aliens – Bücher schreiben.

„Was soll das alles hier?“

Zugegeben, das alles ist keine leichte Kost. Es liest sich nicht geschmeidig, es ist nicht bequem, es entsteht kein wohliges Gefühl beim Lesen. Im Gegenteil. Marlene Streeruwitz zieht in ihren komplexen Vorlesungen gleich mit der komplexen Wirklichkeit, in der die Grenzen zwischen analog und digital immer diffuser werden. Dabei verweigert sie sich einfachen Formeln und simplen Lösungen. Wer die erwartet, wird mit diesem Buch keine Freude haben. Denen aber, die Lust auf einen klugen Diskurs haben, die gern mitdenken, wird es ein intellektuelles Vergnügen sein. Und am Ende gibt uns die Autorin doch noch einen sehr greifbaren Hinweis mit auf den Weg, nämlich, die menschengemachte Literatur nicht aufzugeben. Oder mit den Worten von Marlene Streeruwitz:
„Besser als alle Medien ist die Literatur imstande, die Frage der Wahrnehmung des Körpers und die Wahrnehmungslosigkeit der Technik darzustellen. Besser als alle anderen Medien kann die Literatur beschreiben, wer von Verantwortung weiß und wer Verantwortung hat und wer nicht.“
Also noch einmal zurück zur Ausgangsfrage: „Was soll das alles hier?“ Das alles hier soll die unverwechselbare und notwendige Stellung der analogen Literatur im digitalen Zeitalter verteidigen. Das alles hier soll, als eine „Menschenrechtserklärung für die literarische Figur“ verstanden werden, so jedenfalls hat Marlene Streeruwitz es einmal selbst in einem Interview formuliert und erweist sich damit dann doch als hoffnungsvolle Idealistin in unwirtlichen Zeiten. Denn nur in der Literatur, in ihren unbegrenzten Möglichkeiten liegt es vorborgen, das Wundersame, das uns aus der Unwirtlichkeit retten kann und retten muss.
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