Marlene Streeruwitz: "Flammenwand"
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2019
22 Euro
Von der Frau zur Meisterin
13:03 Minuten
Eine Frau wird Opfer einer Manipulation: Ihr Geliebter gibt vor, impotent zu sein, aber nur, weil er Lust an diesem betrügerischen Schauspiel empfindet. So geht es der Hauptfigur Adele in Marlene Streeruwitz' neuem Roman "Flammenwand".
Frank Meyer: "Flammenwand", so heißt der neue Roman von Marlene Streeruwitz, also der neue Roman einer der angesehensten und engagiertesten Autorinnen Österreichs.
Frau Streeruwitz, bevor wir gleich über Ihren Roman reden, wüsste ich jetzt doch gerne, wie haben Sie denn den Abend gestern und den Morgen heute erlebt mit den Ergebnissen der Europawahl in Österreich? Die ÖVP hat ja deutlich dazugewonnen, die FPÖ hat verloren. Wie geht es Ihnen damit?
Streeruwitz: Der Waldheim-Effekt ist eingetreten, wie das zu erwarten war. Von außen wird uns nichts vorgeschrieben, das ist der ÖVP-Gewinn, und auch die Hoffnung, die Macht nun vollkommen an sich ziehen zu können. Die FPÖ hat Zwei-Komma-irgendwas verloren, das ist nichts. Das heißt, es gibt auch insgesamt kollektiv keine Schuldeinsicht, keine Abscheu davor, was in diesem Ibiza-Video zu sehen oder zu hören ist.
Und das macht die Dauerernüchterung, die seit der Regierungsbildung ja Lebensform geworden ist, verlängert das und macht es eigentlich fast schwierig, irgendwie wieder von vorne zu beginnen und den Kampf aufzunehmen, weil der Samstag, an dem dieser Strache zurücktreten musste mit seinem Adlatus, da waren wir schon sehr befreit, und dieses Gefühl lässt sich jetzt nicht mehr weiterspinnen, und das Wohlfühlen ist wieder vorbei.
Chronik politischer Ereignisse im Roman
Meyer: Was Sie jetzt Dauerernüchterung genannt haben, das haben Sie in gewisser Weise auch in Ihrem Roman gefasst, denn zu Ihrem neuen Roman "Flammenwand", da gehört auch eine Chronik der politischen Ereignisse in Österreich vom 19. März 2018 bis zum 9. Oktober 2018. Die Anmerkungen zu Ihrem Roman, die bestehen aus dieser Chronik. Warum haben Sie die mit in diesen Roman hineingenommen?
Streeruwitz: Der idealistische Anteil an einem literarischen Text, übrigens an jedem Text, auch am wissenschaftlichen, ist doch der, die Behauptung einer Überzeitlichkeit, dass dieser Text nun gültig ist. Das ist eine Vorgangsweise der Eliten, die sich damit eine Ewigkeit in den Text schreiben. Das ist christlich übrigens, und dem wollte ich dadurch entkommen.
Und ich würde mir auch wünschen, dass für viel mehr literarische – also für mich jetzt, weil ich in der Literatur zu Hause bin –, dass ich nicht recherchieren muss, in welchem Zustand ist jetzt "Anna Karenina", in welchem politischen Zustand des Landes, der Umgebung, der Gesellschaft ist das geschrieben worden, und wie bezieht sich das nun auf die Situation jener Person, die die Instanz bildet, um Literatur schreiben zu können. Mir kommt das aus den 20er- und 30er-Jahren in Österreich, in der österreichischen Literatur, in der deutschsprachigen Literatur überhaupt, in der die Verhältnisse durchschimmern, aber nie klar benannt sind.
Meyer: Also Sie wollen damit in Ihrem Buch zeigen, das ist die Situation, die politische, die gesellschaftliche Situation, in der ich diesen Roman, in dem es um ganz andere Dinge geht, geschrieben habe. Das soll uns diese Chronik erzählen?
Streeruwitz: Ja, das ist eine weitere Tür, die in die Werkstatt aufgemacht wird und damit aber natürlich eine Befreiung des Lesers und der Leserin aus Vermutungen. Sondern das ist ganz klar beschrieben, und von da aus kann die Person ja nun ganz anders mit dem Text umgehen, als wenn dieses, was ich durchschimmern nennen würde, Vermutungen möglich macht.
Im Übrigen stellt sich ja auch mittlerweile heraus, dass auch im Deutschsprachigen so viele verschiedene Kulturen existieren, und damit ist das genau festgelegt, das kommt von da.
Der Übergang vom Fegefeuer ins Paradies
Meyer: Also auf der einen Seite diese politische Chronik, auf der anderen Seite erzählen Sie in Ihrem Roman – wenn ich es mal ganz grob fasse – die Geschichte einer Liebe und eines Lebens von einer Frau namens Adele. Das Ganze nun unter dem Titel "Flammenwand" – das bezieht sich, soweit ich weiß, auf Dante, auf die "Göttliche Komödie", da kommt auch eine Flammenwand vor. Was für eine Flammenwand gibt es denn in Ihrem Roman?
Streeruwitz: Ja, in der "Göttlichen Komödie" brennt ja viel, aber wenn Dante mit Vergil ins Paradies kommt, also den Übergang vom Fegefeuer ins Paradies macht, müssen sie noch einmal durch eine Flammenwand, und das ist Firewall auf Englisch, und damit leben wir ja sowieso die ganze Zeit, aber das ist der Ort der Moderne.
Wir hängen auf dem Weg ins Paradies und sind in dieser Flammenwand gefangen. So wie in der christlichen Vorstellung die Menschen in die Flammenwand zuerst geschickt werden hätten müssen und dann erst auf die Welt kommen, so hängen wir in dieser Flammenwand und kommen nicht weiter.
Bruch in der Beziehung zwischen Adele und Gustav
Meyer: Und vor allem hängt, wenn ich Sie da jetzt richtig verstehe, Ihre Hauptfigur in dieser Flammenwand: Adele, eine Österreicherin, etwas über 50, die eine Beziehung führt mit einem Deutschen, Gustav heißt er. Der Bruch in dieser Beziehung, das ist der eigentliche Auslöser für das, was in Ihrem Roman passiert oder bedacht wird. Für diese Beziehung scheint wichtig zu sein, dass Gustav impotent ist oder zumindest behauptet, impotent zu sein. Welche Rolle spielt das denn für die beiden, für die Beziehung dieser beiden zueinander?
Streeruwitz: Ach, wie interessant, dass Sie gleich darauf kommen! Ja, weil es die große Manipulation ist. Also das ist das Schauspiel des Perversen, der Zielperson – wir wollen ja nicht Opfer sagen, weil dieser Begriff so stigmatisiert ist, obwohl wir ihn bräuchten –, der dieser Zielperson eine bestimmte Situation vorgaukelt und nur aus der Manipulation dieser Person Lust beziehen kann.
Das heißt, der muss das gar nicht machen, der hat eine völlig andere Triebabfuhr und ist dann ja auch neidisch auf die Person, die das alles genießen kann, und das ergibt ein Machtverhältnis, das für die Zielperson nicht durchschaubar ist. Adele ist die Zielperson. The mark auf Englisch – von Betrügern heißt das the mark, die Markierte, die Person, die markiert ist für dieses Schauspiel. Das hat sehr theatrale Aspekte.
Ich bin natürlich völlig geplättet davon, dass nun das Ibiza-Video des Herrn Strache und Gudenus, genau dieselbe Situation ist wie in diesem Roman: Jemand hat behauptet, in diesem Fall ein toller, freundlicher Politiker zu sein, der nur das Beste will und außerdem auch noch demokratisch ist, und dann ist auf dem Video zu sehen, dass das alles das Gegenteil ist.
Ähnlich geht es Adele mit dem Anruf dieser anderen Frau, die ihr klarmacht, dass sie einem Schauspiel, einem betrügerischen Schauspiel aufgesessen ist. Die Folgen davon sind für the mark, diese Zielperson oder sogar das Opfer lebensverändernd jedenfalls, wenn nicht sogar lebensbedrohlich.
Meyer: Ihre Hauptfigur Adele, die ist offenbar geprägt – zumindest kommt sie immer wieder darauf zurück – von einem wiederkehrenden Ereignis in ihrer eigenen Kindheit, nämlich, dass ihr Vater ihren Bruder verprügelt mit einer Rute, also richtig heftig, sodass die Haut verletzt wird, er nicht zur Schule gehen kann deshalb, und sie muss dabei zusehen. Also sie wird selbst nicht geschlagen, der Junge wird geschlagen, aber sie muss sich das ansehen, diese Gewalt zwischen zwei Männern. Was bedeutet das für ihre Prägung, dieses zusehen müssen?
Streeruwitz: Dass sie vielleicht, diese Zielperson, schon hergerichtet ist, also dass sie für diese Beziehung eigentlich schon genau die Richtige ist, dass jemand sie betrügen kann in der Form, weil sie durch das Zusehen ja dann verdrängen muss. Also sie kann gar nicht sehen. Also sie wird gezwungen, einem fürchterlichen Vorgang zuzusehen, den sie aber ertragen muss, weil ihre Eltern ja ihre Erhalter sind, und das ist die Grundsituation des kleinen Kindes, das in die sadomasochistischen Umstände unserer Kulturen eingewiesen wird.
Und sie wird zu einer hysterischen Masochistin gemacht, die dann genau dort für diese Form der Beziehung, die sie da durchlebt hat, vorbereitet ist. Das ist ihr in einer gewissen Weise auch klar, weil diese Person um sich selbst kämpft. Also sie will etwas wissen über sich selbst, und sie will sich selbst begreifen, und das ist eigentlich der wirkliche Vorgang, der dahintersteht.
Wunsch nach einer neuen Sprache
Meyer: Und dieses Selbstbegreifen, das passiert ja in diesem Roman. Sie arbeitet sich da durch ihren Schmerz hindurch, den Verrat von ihrem Freund Gustav und dem Schmerz auch ihrer Geschichte. Sie lassen Adele am Ende ein neues Wort erfinden, also da, wo wir gemeinhin von Meistern sprechen, wenn jemand etwas meistert, da spricht Adele jetzt von Meisterinnen. Also ich werde etwas meisterinnen, die weibliche Form. Ist das schon in der Sprache eine Anzeige dafür, dass es so einen Moment des Ausbrechens, des Aufbrechens gibt für diese Frau?
Streeruwitz: Also in den Machtverhältnissen, in denen ein Geschlecht gelebt werden muss, ist die Herrschaft bei dem, was männlich genannt wird und die Nichtherrschaft, wie auch immer die aussieht, bei dem Weiblichen. Die Ziele unserer Kulturen sind alle elitär-männlich. Das ist in der Wissenschaft so, das ist in der Literatur so, das ist in der Technik so, das ist in der ganzen Welt so, das ist in der Politik so.
Das heißt, eine Frau kann nie der Beste sein, sie kann immer nur die Beste sein, und das ist schon mal eine Hierarchie, die sich dadurch herstellt in unserer Sprache, weil wir ja diese Zuweisungen ganz deutlich sprechen und damit leben müssen. Es gibt da noch viele Umwege, da könnten wir sehr lange darüber reden. Ich gehe davon aus, dass Nietzsche gesagt hat, die Gesellschaft besteht überhaupt nur aus Schuldnern und Gläubigern, und wem die Schulden bezahlt werden, also welchem Gläubiger die Schulden bezahlt werden, so stellt Macht sich her.
Frauen bekommen ihre Schulden nicht bezahlt, das ist in dieser Beziehung auch ganz klar zu sehen. Sie häuft Leistungen an, also die Liebe, die Zuwendung, dieses Verständnis für seine Impotenz, der Versuch, das zu begreifen, damit umzugehen, es einzubauen, auch zu lieben. Also sie liebt ihn ja insgesamt und auch seine Impotenz und bekommt diese Anhäufung, die ihr der Mann genommen hat und damit Schulden angehäuft, kriegt sie nicht bezahlt.
Da zieht sie sich jetzt zurück auf diese weiblichen Möglichkeiten und möchte sagen, dass sie das so macht, und dann müsste eigentlich eine Sprache gefunden werden, in der die Hierarchien entgeschlechtlicht gesprochen werden können, damit wir zu einer Objektivität kämen. Das ist so weit weg, dass sie jetzt mal mit Meisterinnen genug schon erreicht hat.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.