Marlon James: Eine kurze Geschichte von sieben Morden
Aus dem Englischen von Guntrud Argo, Robert Brack, Michael Kellner, Stephan Kleiner und Kristian Lutze.
Heyne, München 2017.
858 Seiten, € 27,99
Wuchtiges Panorama der Geschichte Jamaikas
Von wegen "eine kurze Geschichte": Auf über 800 Seiten und enormer literarischer Wucht entwirft Marlon James einen Überblick über 30 entscheidende Jahre in der Geschichte Jamaikas. Dreh- und Angelpunkt bildet dabei das gescheiterte Attentat auf Reggaemusiker Bob Marley.
Das Versprechen "Eine kurze Geschichte von sieben Morden" auf über 850 Seiten erzählen zu wollen, sollte eigentlich ein kräftiges Ironie-Signal sein. Tatsächlich entfaltet der jamaikanische Autor Marlon James in seinem, mit dem renommierten "Man-Booker-Prize" ausgezeichneten Roman, ein eher ironiefreies, aber gigantisches Panorama, das ein Attentatsversuch auf den Reggae-Star Bob Marley zum Anlass nimmt, eine Art Geschichte Jamaikas über fast 30 Jahre erzählte Zeit zu unternehmen. Ungefähr vom Ende der "Entkolonialisierung" 1962 bis weit in die 1980er Jahre.
Das Attentat auf Marley im Jahr 1976 (das er überlebt hat) dient dabei als Dreh- und Angelpunkt in die Vergangenheit und in die Zukunft und beleuchtet die sozialen und politischen Verhältnisse Jamaikas unter den Auspizien von Armut, Kriminalität und Gewalt, von Rassismus und, selten thematisiert, von Homophobie. Es geht um die geostrategische Lage und Position Jamaikas in Zeiten des Kalten Krieges, die die Insel vor allem für die CIA als wichtiges Territorium gegen Kuba verstanden wird. Es geht aber auch um jamaikanische Drogengangs, die "Posses", deren Arm bis weit nach New York City reicht. Und es geht um die ruppige Innenpolitik des Landes, die vom Arm/Reich-Gefälle bestimmt wird.
Ein wuchtiges, literarisches Puzzle
Das alles ist von James immer beeindruckend, manchmal wuchtig und manchmal auch verwirrend (weil man sich die historischen Bezüge und Fakten mühsam zusammenpuzzeln muss) inszeniert. Er splittet den Roman in über siebzig Erzählstimmen auf, die teilweise wenig zentral sind, sondern sich letztendlich auf ein gutes Dutzend substantielle Stimmen reduzieren lassen. Besondere ästhetische Höhepunkte sind dabei ein neunseitiger Rap eines der mit Drogen zugedröhnten Attentäter und ein an James Joyce erinnernder seitenlanger Satz ohne Punk und Komma seines Kollegen, ein deliranter und extrem intensiver innerer Monolog, der das ganze verzweifelte Elend des "Karibik-Paradieses" konzentriert. Klar, dass eine solche Dynamik nicht über achthundert Seiten durchgehalten werden kann, aber alleine die zitierten Kapitel machen klar, warum der Roman solch ein außergewöhnliches, hochkomplexes Werk geworden ist.