Marokkos Jugend ohne Zukunft

"Ihr habt eine Generation zerstört"

Proteste in der marokkanischen Stadt Casablanca, im Juli 2018, anlässlich der Verhaftung von Nasser Zefzafi und drei weitere Führungsfiguren der Protestbewegung. Die Bewegung richtet sich gegen die Arbeitslosigkeit, schlechte Gesundheitsversorgung und Korruption im Norden Marokkos.
Proteste gegen die Arbeitslosigkeit, schlechte Gesundheitsversorgung und Korruption in der marokkanischen Stadt Casablanca. © AP Photo/ Mosa'ab Elshamy
Von Jens Borchers |
Drei Ausbildungen und trotzdem keinen Job: So sieht der Lebenslauf vieler junger Menschen in Marokko aus. Arbeitslosigkeit und ein schlechtes Bildungssystem lässt sie auf die Straße gehen. Vom wirtschaftlichen Wachstum des Landes profitieren sie nicht.
Wenn der Gesang der Ultras aus der Südkurve des Stadions von Raja Casablanca dröhnt – dann geht es nicht nur um Tore, Titel und Triumphe. Die Fans singen ihren Protest:
"Ich werde unterdrückt in meinem Land. Bei wem kann ich mich beklagen? Nur beim allmächtigen Gott. Er wird mein Leiden verstehen."
Und das ist nur der Anfang. Dieser Fan-Gesang ist eine Anklage:
"Ihr habt die Reichtümer unseres Landes gestohlen. Ihr habt sie mit Ausländern geteilt. Ihr habt eine ganze Generation zerstört."
Das Video dieses Protestsongs der Fußballfans ist mehr als eine Million Mal angeklickt worden. Und etliche singen ihren Protest nicht nur, sie randalieren. Ein Mob junger Kerle zieht durch ein Stadtviertel Casablancas, zertrümmert Schaufenster, gräbt Pflastersteine aus, schleudert sie in die Windschutzscheiben geparkter Autos. Die Sicherheitskräfte haben alle Hände voll zu tun. Und sie sind nicht zimperlich.
Woher kommt diese Wut? Woher diese Aggressivität? Eine mögliche Antwort lässt sich in Zahlen ausdrücken.

Die Jugend auf dem Land hat die Hoffnung verloren

Die Arbeitslosigkeit in Marokko liegt allgemein bei etwa zehn Prozent. Aber: "Die jungen Menschen haben weiterhin große Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt. Ihre Arbeitslosenquote liegt zweieinhalb Mal so hoch wie im nationalen Durchschnitt und übersteigt in den Städten 40 Prozent." So beschreibt die marokkanische Rat für Wirtschaft, Soziales und Umwelt in seinem Jahresbericht 2017.
Noch eine Zahl als mögliche Antwort auf die Frage, woher die Wut kommt: "In Marokko haben etwa 1,4 Millionen junge Menschen im Alter von 18 bis 24 Jahren weder eine Ausbildung, noch einen Job."
Unklar ist, wie viele Jugendliche unter 18 Jahren im Königreich Marokko die Schule abbrechen. Das Erziehungsministerium schätzt, dass es mehrere Hunderttausend sind.
Demonstration in der marokkanischen Stadt Al-Hoceima. Demonstranten schreien Slogans vor Sicherheitskräften.
Demonstration in der marokkanischen Stadt Al-Hoceima. © AFP
Die Lage ist so ernst, dass König Mohamed VI. gewissermaßen Alarmstufe Rot ausrief: "Wir müssen unsere Aufmerksamkeit, wiederum und mit aller Dringlichkeit, auf die Frage der Arbeitsmöglichkeiten der jungen Menschen lenken. Vor allem mit Blick auf das Bildungs- und Ausbildungssystem. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass unser Bildungssystem wie eine Maschine funktioniert, die Legionen von Arbeitslosen produziert. Vor allem in einigen Universitätsbereichen, in denen die Absolventen, alle Welt weiß das, enorme Probleme haben, Zugang zum Arbeitsmarkt zu finden."
Der König müsste wissen: Es sind keineswegs nur die Universitätsabsolventen, die keine Jobs finden. Das Problem besteht auf allen Bildungsniveaus und es sorgt für breite Frustration. Eine großangelegte, aktuelle Jugend-Studie kam in Marokko vor allem zu einem Ergebnis: Die jungen Menschen im Land, heißt es da, hätten die Hoffnung verloren! Eine Folge davon ist: Viele wollen weg. Raus aus Marokko, nach Europa.

Bloß weg, nach Europa

Es ist nicht schwer, in der Hafenstadt Tanger minderjährige Jugendliche zu finden, die nach Europa wollen. Der 14-jährige Mohammed kann vom Hafen aus die spanische Küste mit bloßem Auge sehen. Seinen richtigen Namen will er nicht sagen. Er sei aus Nord-Marokko, aus der Stadt Fès, hierhergekommen, erzählt Mohammed. Die Schule brach er in der fünften Klasse ab. Zuhause habe es immer Ärger mit dem Stiefvater gegeben. Der habe ihm gesagt, er solle verschwinden – es gab Beschimpfungen und Schläge. Deshalb will Mohammed nach Spanien.
Flüchtlinge am Grenzzaun in der spanischen Exklave Melilla in Nordafrika, an der Grenze zu Marokko.
Flüchtlinge am Grenzzaun in der spanischen Exklave Melilla in Nordafrika.© AP Photo / Santi Palacios
"Ich glaube, dort ist es besser als in Marokko. Dort bringen sie dich in einem Zentrum unter, kleiden dich, geben dir zu essen, unterrichten dich. Hier in Marokko sind die Jugendzentren wie Gefängnisse, da wirst du misshandelt, es gibt nicht genug zu essen."
Das alles will Mohammed von Freunden erfahren haben, die in Spanien sind. Er will es machen wie so viele seiner Altersgenossen: versuchen, sich auf einem Lastwagen zu verstecken, der dann mit der Fähre nach Spanien übersetzt. Oder auf ein Schlauchboot zu kommen.
Ob er das Risiko der Überfahrten kennt? Klar, sagt Mohammed, das kann den Tod bedeuten. Der 14-Jährige sagt das ganz ruhig.

"Ein Klima einer geteilten Depression"

In Marokkos Hauptstadt Rabat treffen wir Sara Soujar. Migration – für sie wäre das nichts. Sara sagt, sie könne und wolle ihre Familie und ihre Freunde nicht verlassen. Sie will bleiben und versuchen, die Dinge voranzubringen. Allerdings beschreibt die 29-Jährige eine Stimmung unter ihren Altersgenossen, die keineswegs positiven Aufbruch signalisiert: "Ein Klima einer geteilten Depression. Es herrscht ein Klima der Hoffnungslosigkeit, es mangelt an Vertrauen, keiner will träumen. Das ist eine Depression. Eine gemeinsame Depression", sagt Sara Soujar. Sie ist Juristin.
Gerade arbeitet sie an einem Master-Abschluss in internationalen Beziehungen. Die junge Frau ist ledig, lebt bei ihren Eltern und strahlt Energie aus. Sie engagiert sich politisch in Nichtregierungsorganisationen, sie hat gemeinsam mit vielen anderen jungen Menschen vor sieben Jahren den Traum vom Aufbruch in eine bessere, demokratischere Zukunft geträumt. Damals waren in Tunesien und Ägypten Hunderttausende auf den Straßen, um gegen verkrustete Regimes und für eine bessere Zukunft zu demonstrieren. Marokkos Mächtige reagierten mit Verfassungsänderungen und Versprechungen an die Jugend.
Heute sagt Sara Soujar nüchtern: "Selbst in den Regierungsberichten, selbst in den Reden des Königs ist von der Jugendarbeitslosigkeit die Rede. Da geht es um Hoffnungen der jungen Leute, um ihre Situation. Ganz ehrlich: Es ist nicht richtig, die Hoffnung zu verlieren. Aber man hat jedes Vertrauen in die marokkanische Regierung verloren."
Da sind die Fußball-Fans, die von Unterdrückung und der Zerstörung einer Generation singen. Da sind die Anhänger der Protestbewegung von 2011, die sagen, sie hätten kein Vertrauen mehr in die marokkanische Regierung. Da ist der König, der im vergangenen Jahr in nie gehörter Weise Politikern und Beamten die Leviten las, ihnen teilweise mangelndes Engagement und Selbstsucht vorwarf. Monarchie und Politiker wissen, dass es unter der Oberfläche brodelt, dass die junge Generation Frust schiebt. Und das wird immer häufiger sichtbar.

Gewaltsame Proteste werden immer häufiger

Ein Protestmarsch in Nord-Marokko: In der Stadt Al Hoceima, im Norden des Landes, geraten Sicherheitskräfte und Demonstranten aneinander. Die Bereitschaftspolizisten setzen Schlagstöcke ein, daraufhin fliegen Steine und kurz darauf löst sich der Protest in einem Nebel von Tränengas auf.
Die Polizei sagt, die Demonstranten hätten Gewalt angewendet und umgekehrt. Es gibt viele Festnahmen und viele gegenseitige Vorwürfe. Die Protestbewegung prangert soziale Ungleichheiten an. Sie beschwert sich darüber, dass vom König höchstpersönlich initiierte Infrastrukturprojekte nicht vorankommen. Sie wollen eine Universität, eine bessere Krankenversorgung. Sie wollen Arbeit.
Die Antwort von Regierung und Palast ist zwiespältig: Erstens wird der Protest mit massivem Polizeiaufgebot und zahlreichen Verhaftungen eingedämmt. Zweitens feuert König Mohamed VI. etliche Minister und Spitzenbeamte, weil sie seiner Ansicht nach ihren Job nicht gemacht haben.
Aber das scheint nur wenig positiven Eindruck gemacht zu haben. Als einer der Führer der Protestbewegung aus dem Norden Marokkos im Sommer zu 20 Jahren Haft verurteilt wird, sind die jungen Leute wieder auf der Straße, vor dem Gericht in Casablanca:
Ein Teilnehmer dieser Demonstration sagt: "Die Angst hat die Seiten gewechselt. Früher hatten die jungen Leute Angst vor dem Staat. Jetzt hat der Staat Angst vor den jungen Leuten."

Der Staat "hat keine Antwort"

Sara Soujar, die junge, politisch engagierte Frau, hat das Gefühl, der Staat wisse nicht, wie er auf die Proteste und die Forderungen der jungen Marokkaner reagieren soll: "Er hat keine Antwort. Ganz schlicht. Weil er keine Antwort hat, dominiert der Sicherheitsaspekt. Damit reagiert der Staat auf diese Fragen. Das war nicht nur in Nord-Marokko so, sondern in vielen anderen Städten auch."
Repression anstelle von Reformen? Tatsache ist, dass die notwendigen Reformen nicht wirklich vorankommen. Stattdessen vertiefen sich die sozialen Gräben innerhalb der Gesellschaft weiter. Das Gesundheitssystem gilt als marode. In den öffentlichen Krankenhäusern fehlt es an Personal und Medikamenten. Wer genug Geld hat, nutzt private Angebote. Das staatliche Schulsystem, das gesteht auch die Regierung ein, ist dringend reformbedürftig. Wer genug Geld hat, schickt seine Kinder auf teure Privatschulen. Aber viele haben eben nicht genug Geld.

"Wenn ich lernen will, muss ich weit fahren"

In der Region Khemisset: Hier leben die meisten von der Landwirtschaft. Es gibt keine nennenswerte Industrie, kaum attraktive Arbeitgeber in dieser Region. Schülerinnen wie die 17-jährige Meryem Boukhlik müssen um ihre Bildung kämpfen.
"In meinem Dorf hat man uns in der Grundschule kaum etwas beigebracht. Sie gelehrt, was sie lehren sollten. Aber wir haben nicht wirklich etwas gelernt, wir sind einfach in die nächste Klasse versetzt worden."
Schüler in einem Klassenzimmer einer Schule in in Fes, Marokko.
Schüler in Fes: Das staatliche Bildungssystem in Marokko gilt als schlecht. Wer kann, schickt seine Kinder auf Privatschulen. © chromorange
Sie lebt in einem Dorf, das etwa 50 Kilometer von der nächsten großen Stadt entfernt ist: "Mein Dorf ist klein und es fehlt an vielem. Gesundheitsversorgung ist schwierig, Schule auch. Wenn ich lernen will, muss ich weit fahren. Im Dorf gibt es nur die Grundschule. Die weiterführende Schule ist 18 Kilometer weit weg. Und ein Gymnasium – dafür muss ich hierherkommen."
Hierher – das ist die Stadt Khemisset. Meryem geht hier aufs Gymnasium. Das geht nur, weil sie bei einer Tante in der Stadt untergekommen ist. Die Tante ist selbst nie zur Schule gegangen, kann Meryem also nicht helfen. Immerhin: Die 17-Jährige hat sich bis in die neunte Klasse vorgekämpft und träumt davon, Abitur zu machen und Lehrerin zu werden. Wie sie das Geld für ein Studium aufbringen soll, weiß sie nicht. Ihre Eltern sind arm, sagt sie.

Unterricht nach veralteten Programmen

In der Stadt Khemisset treffen wir Mohamed: "Ich heiße Mohamed Boulila, bin 28 Jahre alt und mache im Moment nichts!" Ein groß gewachsener, zurückhaltender junger Mann, dunkle Brille, wache Augen. Mohamed stammt aus Khemisset, hier hat er sein Abitur gemacht und wollte dann Jura studieren, in Rabat, in der Hauptstadt. Das ging schief:
"Ich habe ein Jahr Jura in Rabat studiert, dann musste ich aufhören. Ich hatte nicht genug Geld. Also habe ich eine Ausbildung zum Informatiker gemacht, dann eine als Küchenausstatter und schließlich noch eine als Friseur. Aber mein Jura-Studium musste ich aufgeben – die Miete, der Unterhalt, das war alles zu teuer."
Obwohl Mohamed dann Küchenausstatter, Informatiker und Friseur gelernt hat, findet er keine Arbeit sagt er. Aber warum nicht?
Weil die Ausbildungsgänge nichts taugen, sagt er: "Die Berufsausbildung ist das Problem. Sie unterrichten uns nach veralteten Programmen. Wenn man dann den Beruf ausüben will, sieht man: Wir haben nicht das gelernt, was heute verlangt wird. Wer Mechaniker lernt, wird feststellen, dass er lauter veralteten Stoff beigebracht bekam. Dann gehst su in eine Werkstatt und merkst: Heutzutage geht alles mit Software und Computern – nur dass wir das nicht gelernt haben. Das ist das Problem!"
Ausländische Investoren, die nach Marokko kommen, bestätigen das. Sie müssen in aller Regel ihre Arbeitskräfte erst einmal ausbilden, obwohl die eigentlich schon eine Berufsausbildung haben. Mohamed Boulila sagt, er bewirbt sich weiter, er sucht nach einem Job. Bisher ohne Erfolg. Momentan schlägt er sich als Animateur bei Kinder-Geburtstagen oder Familienfesten durch. Was verdient er da? "Ich kann es nicht sagen", antwortet Mohamed, "manchmal habe ich zwei Monate hintereinander gar nichts".

Die Wutausbrüche des Monarchen

"Viele junge Leute sind wütend! Schau dir doch die jungen Menschen an, die in der Rif-Region auf die Straße gegangen sind. Und in Jerada oder vielen anderen Städten. Wenn die Lage besser wäre, dann gäbe es das nicht. Dann wären sie nicht so angespannt, dann würden sie nicht auf den Staat fluchen. Wenn sie Arbeit hätten und eine gute Bildung, dann wäre das anders. Wenn du hier in Khemisset mit den jungen Leuten sprichst, die werden nicht sagen, dass die Lage gut ist." Nein, das tun sie tatsächlich nicht.
Zurück in die Hauptstadt Rabat, ins Entscheidungszentrum Marokkos. Hier sitzen Parlament und Regierung als Entscheidungsträger. Und natürlich der König, mächtiger Staatschef und religiöses Oberhaupt in einer Person. Der Monarch zeigt in letzter Zeit häufig die Tendenz zu Wutausbrüchen. Dann bringt er seine Unzufriedenheit mit Politikern und Beamten zum Ausdruck. Er glaubt, Marokko komme nicht im gewünschten Tempo voran, weil es im Beamtenapparat, in politischen Parteien und in Ministerien keine fortschrittliche Denkweise gebe.
König Mohammed VI. las ihnen im vergangenen Jahr die Leviten als er in seiner Thronrede sagte: "Wenn die Ergebnisse positiv sind, dann konkurrieren politische Parteien, Politiker und Beamte um das Rampenlicht, um sowohl die politische als auch die mediale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wenn aber die Angelegenheiten nicht so positiv ausfallen, dann verstecken sie sich hinter dem Königspalast und schreiben ihm alles zu."
Das mag sein. Nur: Es ist häufig der König selbst, der wichtige Entscheidungen trifft. Ein Beispiel: der Hochgeschwindigkeitszug TGV von Tanger über Rabat nach Casablanca.

Prestigprojekte anstelle von Investitionen in Bildung

Auf dem eigens neu gebauten Bahnhof in der Hauptstadt Rabat werden Fanfaren für den König und den französischen Staatspräsidenten Macron geblasen. 2,3 Milliarden Euro hat die Strecke von Tanger nach Casablanca gekostet. Frankreich hat die Hälfte davon bezahlt. Marokkos französischer TGV kann jetzt mit fast 350 Stundenkilometern zwischen den Hafenstädten hin- und herjagen.
Ein Symbol der Modernität? Modellprojekt einer rasch wachsenden Wirtschaft? Professor Najib Akesbi holt tief Luft, bevor er diese Frage beantwortet. Der Wirtschaftswissenschaftler wird grundsätzlich:
"Ich kann Ihnen ganz egoistisch sagen: Ich werde vom TGV profitieren. Weil ich zu den vier oder fünf Prozent der Marokkaner gehöre, die sich die Fahrkarten leisten können. 95 Prozent – und das sind Fakten – haben ganz andere Bedürfnisse: Bildung! Gesundheit! Aber selbst wenn wir mal bei der Schienen-Infrastruktur bleiben. Wussten Sie, dass Marokkos Schienennetz, bis auf wenige Kilometer, noch genauso groß ist wie es uns die Franzosen 1956 hinterlassen haben?"
Marokkos König Mohammed VI. gemeinsam mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei der Eröffnung der Hochgeschwindigkeitszugstrecke in Tangier.
Noch ein Prestigeprojekt: Marokkos König Mohammed VI. und Frankreichs Präsident Macron bei der Eröffnung der neuen High-Speed-Zugstrecke in Tangier.© Christophe Archambault/ Pool Photo via AP
Najib Akesbi vertritt mit vielen Zahlen und ebenso viel Engagement die Ansicht, dass in Marokko grundlegende Fehlentscheidungen getroffen wurden und werden. Anstatt in Bildung, Ausbildung, Gesundheitswesen und Basis-Infrastruktur zu investieren, habe man sehr viel Geld immer wieder in Großprojekte von zweifelhaftem Nutzen gesteckt. Siehe TGV. Zwischen Tanger, Rabat und Casablanca gibt es bereits eine Bahnverbindung, eine Autobahn und eine Nationalstraße. Andere Regionen des Landes sind von einem derartigen Infrastruktur-Luxus Lichtjahre entfernt.

"Die Monarchie an sich wird infrage gestellt"

Marokko sollte zu einer exportorientierten Marktwirtschaft entwickelt werden. Das war die Entscheidung nach der Unabhängigkeit von Frankreich. Bis heute kommen 70 Prozent aller Investitionen vom Staat, sagt Professor Akesbi. Die Importe sind doppelt so hoch wie die Exporte. Die Wirtschaft wächst nicht rasch genug, um ausreichend Arbeitsplätze zu schaffen. Der Professor sagt ganz dezidiert, wer dafür verantwortlich ist: "Seien wir offen", sagt Najib Akesbi, "die grundsätzlichen Entscheidungen – die fehlgeschlagen sind – hat die exekutive Monarchie getroffen".
Marokko hat auch eine Regierung, die aus demokratischen Wahlen hervorgeht. Aber diesen Politikern traut kaum jemand über den Weg. Die Wahlbeteiligung sinkt deshalb kontinuierlich. Und die Hoffnung, der allmächtige König werde es richten, die stieg ständig. Bisher jedenfalls.
Genau das scheint sich aber zu verändern. Der Zugang zum Internet und zu den sozialen Medien hat die Verbreitung von Informationen nicht nur beschleunigt. Viele sehen, hören und lesen, wie es anderen Ländern aussieht. Und sie sehen den Alltag zuhause. Vor allem für viele junge Menschen sieht dieser Alltag nicht gut aus: Nicht genug Jobs, eingeschränkte Freiheiten, ein autoritärer Staat. Najib Akesbi glaubt, dass sich die Stimmung unter den jungen Menschen im Land verändert hat:
"Seit etwa einem Jahr sind Tabus gebrochen worden. Die Sprache, die Worte, die benutzt werden – das hat sich verändert. Und wenn ich von gebrochenen Tabus rede, sprechen wir vom König. Selbst 2011, bei den Demonstrationen damals, haben sie nur die Berater des Königs kritisiert. Aber nicht den König selbst. Jetzt aber wird die Monarchie an sich infrage gestellt."

"Der Staat weiß nicht mehr, was er machen soll"

Abdellah Aid ist 28 Jahre alt, Mitbegründer des "Forums für Modernität und Demokratie". Das Forum ist keine Partei. Es ist eine Nichtregierungsorganisation. Abdellah Aid sagt, das sei ganz bewusst so eingerichtet worden. In Parteien müsse für Alles und Jedes das Einverständnis von den Chefs kommen – das sei bei ihnen anders. Ganz bewusst. Abdellah Aid und sein Forum für Modernität und Demokratie wollen, dass Leute initiativ sind, Ideen entwickeln, eigenverantwortlich Dinge tun und kommunizieren.
Denn das ist es, was nach seiner Beobachtung im marokkanischen Staat zu selten geschieht. Deshalb würden Probleme wie die grassierende Jugendarbeitslosigkeit nicht gelöst: "Der marokkanische Staat weiß nicht mehr, was er machen soll. Es gibt keine Strategie, keine Vision. Selbst der König hat gesagt, das marokkanische Entwicklungsmodell sei gescheitert. Er hat die politischen Parteien aufgefordert, neue Vorschläge für die Richtung unserer Entwicklung zu machen. Wenn also das alte Modell gescheitert und ein neues bisher noch nicht in Sicht ist, dann gibt es gar nichts. Keine klare Strategie. Das Schlimmste ist: Es gibt kein politisches Modell."
Über diese Argumentation würden Politiker und Berater des Palastes sicherlich mit Abdellah Aid streiten. Aber so sehen es viele junge Leute in Marokko. Dass der König selbst nicht mehr von der Kritik ausgenommen wird, das sieht auch Abdellah Aid so.
"Das ist die Generation Mohammed VI., das ist nicht mehr die Generation von Hassan II., seinem Vater. Wer nach 1999 geboren ist, kennt Hassan II. nicht aus eigenem Erleben. Sie kennen nicht die Folter der damaligen Zeit. Sie haben keine Angst. Sie nutzen die sozialen Netzwerke und wissen, wie es anderswo ausschaut. Und sie fragen sich, warum die Dinge hier in Marokko anders sind."
Regierung und Palast – davon darf man ausgehen – wissen, dass es gärt in der jungen Generation. Sie haben immer wieder versprochen, gerade für die jungen Leute etwas zu tun. Die neueste Entscheidung in diesem Zusammenhang dürfte aber viele Gemüter keineswegs beruhigt haben.

Wehrpflicht soll "Gefühl der Zugehörigkeit" stärken

Der König verkündete kurz und knapp die Wiedereinführung einer Wehrpflicht, für Frauen und Männer im Alter zwischen 19 und 25 Jahren. Zunächst sollen 10.000 junge Menschen – angeblich ohne Ansicht ihrer sozialen Herkunft, Bildung oder Ausbildung – für jeweils ein Jahr Dienst tun. Die Begründung lieferte der König persönlich:
"Tatsächlich verstärkt der Militärdienst das Gefühl der Zugehörigkeit zum eigenen Land. Er erlaubt außerdem, von einer Ausbildung und einem Training zu profitieren, das den Einberufenen, die von ihren Kompetenzen, ihrem Engagement und ihrer Verantwortung Gebrauch machen wollen, Möglichkeiten einer sozialen und beruflichen Eingliederung eröffnen."
Abdellah Aid vom Forum für Modernität und Demokratie ist dagegen. Er fürchtet, die Wiedereinführung der Wehrpflicht soll die jungen Leute vor allem disziplinieren. 50 Millionen Euro sind im Etat 2019 dafür angedacht – Geld, das man an anderer Stelle deutlich sinnvoller einsetzen könnte, meint Abdellah Aid. Er gründete in einem sozialen Netzwerk eine Plattform gegen den Wehrdienst. Die hatte fast aus dem Stand zehntausende Follower, die ähnlich denken wie Abdellah Aid:
"Ich verstehe nicht, wie zwölf Monate Wehrdienst einen jungen Menschen aus der Arbeitslosigkeit holen sollen. Er arbeitet nicht, verbringt dort zwölf Monate, kommt dann raus aus der Armee – und steckt dann wieder in der Arbeitslosigkeit."
Im Gesetzentwurf zur Wiedereinführung des Wehrdienstes steht auch, dass sich strafbar macht, wer andere dazu bringt, sich dem Militärdienst zu widersetzen. Auf die Frage, ob ihm das nicht Angst mache, antwortet Abellah Aid: "Ich habe mir gedacht – wenn mir wirklich etwas passieren sollte, dann kann ich das ja meinem Lebenslauf hinzufügen!"
Es ist nicht ganz klar, was das für ein Lachen ist: bitter oder fast übermütig. Klar ist nur: Abdellah und seine Freunde im Forum für Modernität und Demokratie wollen ihre Meinung sagen. Und erwarten, dass sie gehört und ernst genommen wird.
Jeder kämpft auf seine Art. Die Fußballfans in der Südkurve des Stadions von Raja Casablanca singen ihren Protest: "Ich werde unterdrückt in meinem Land. Bei wem kann ich mich beklagen? Nur beim allmächtigen Gott. Er wird mein Leiden verstehen. Ihr habt die Reichtümer unseres Landes gestohlen. Ihr habt sie mit Ausländern geteilt. Ihr habt eine ganze Generation zerstört."
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