Der Marsch nach Brünn
Bei der Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung aus Brünn wurden 1945 etwa 27.000 Menschen auf einen Todesmarsch geschickt. Heute erinnern Veranstaltungen daran. © imago / CTK Photo / imago stock&people
Eine deutsch-tschechische Versöhnungsgeschichte
30:02 Minuten
Tausende Deutsche wurden nach Kriegsende 1945 im tschechoslowakischen Brünn auf einen Todesmarsch Richtung Österreich geschickt. Lange wurde darüber kaum gesprochen. Heute setzt ein alljährlicher Marsch in umgekehrter Richtung Zeichen der Versöhnung.
"Sie konnte nicht sagen, wie lange sie schon unterwegs waren. Als ob ihr Weg Jahrhunderte dauerte. Dabei dämmerte es noch nicht einmal, es konnten also nur ein paar Stunden sein. Sie war müde und ihre Begleiterin auch. […] Einige Male schon waren sie an Menschen vorbeigegangen, die auf der Erde saßen oder auf einem Koffer, den sie mitschleppten. Einige Male hatten sie auch gesehen, wie einer der jungen Männer zu ihnen lief und ihnen mit dem Gewehrkolben den Kopf zerschmetterte. Die junge Frau neben ihr flüsterte, sie habe Durst. Gerta sagte nichts. [...] Auch sie hatte Durst, aber sie schwieg und schleppte sich Schritt für Schritt weiter, Gott weiß wohin." – So heißt es im Roman „Gerta. Das deutsche Mädchen“ von Schriftstellerin Kateřina Tučková.
Die Stadt Brünn liegt im Südosten Tschechiens. Wien und Bratislava sind jeweils nur zwei Fahrtstunden entfernt. Die Studenten der hiesigen Universität prägen das Stadtbild. An lauen Abenden sitzen sie vor den zahlreichen Bars und Cafés dicht an dicht auf den Bürgersteigen, lachen, reden oder lauschen einem der vielen Konzerte.
Die Sendung wurde am 24. November 2022 urausgestrahlt.
Unweit des pulsierenden Stadtkerns befindet sich das Augustinerkloster. Dort im Klostergarten entdeckte Gregor Mendel, der 1822, vor 200 Jahren, geboren wurde, die nach ihm benannten Vererbungsgesetze. Ein Denkmal im Klosterhof, das Mendel in Mönchskutte zeigt, erinnert daran. Auch der weitläufige Platz vor dem Kloster ist nach dem Naturwissenschaftler benannt.
Am Abend des 30. Mai 1945 wurde Mendel auf seinem Sockel Zeuge eines grausamen Gewaltakts. 27.000 Menschen wurden auf dem Platz zusammengetrieben und von bewaffneten Männern aus der Stadt geführt. Frauen, Kinder, ältere Menschen. Jungen und Männer im arbeitsfähigen Alter waren zuvor in Lagern interniert worden.
„Erlass des Nationalausschusses für Groß-Brünn: 'Deutsche, die im Bereich der Stadt Brünn wohnen, […] sollen aus der Stadt herausgeführt werden. [...] Hausbesitzer bzw. -verwalter haben alle Frauen und Kinder unter 14 Jahren und Männer über 60 Jahren sowie arbeitsunfähige Männer aufzufordern, sich darauf vorzubereiten, Groß-Brünn heute, d.h. den 30. Mai 1945, 22 Uhr, zu verlassen.'", hieß es im Erlass.
Lange Menschenschlange in Brünn
"An diesem letzten Maiabend des Jahres 1945, bevor sie aus der Stadt getrieben wurden, standen sie alle zusammen in einer langen Menschenschlange, die vom Augustinerkloster über den Mendelplatz reichte, dann verlor sie sich in der Dämmerung, und auf der anderen Seite bis zum St. Annen-Krankenhaus und weiter um die Kurve. In der gleichen Menschenmenge warteten auch die Liebschers, Oma Pawelka aus der Köffillergasse mit blutigen Ohrmuscheln, weil man ihr soeben die Ohrringe abgerissen hatte, die Verkäuferin Mayer mit der kleinen Irma und der kleinen Ingrid [...]. Die Mädchen standen dicht beieinander und zogen die Köpfe ein, wenn die bewaffneten Revolutionsgarden laut brüllend an ihnen vorüberliefen." So schreibt Kateřina Tučková.
Kateřina Tučková: "Gerta. Das deutsche Mädchen", KLAK Verlag, Berlin 2018
„Das war also nachts. Wir wurden um halb sieben abends abgeholt – also wahrscheinlich mussten wir uns an irgendwelchen Stellen versammeln. Und ich hatte irgend so ein Henkeltöpfchen zu tragen und ich war so müde, ich habe das Henkeltöpfchen fallen gelassen – Oh Gotteswillen! – aber jemand hat es mir gegeben, von hinten nach vorne gereicht. Dieses erleichternde Erlebnis, ja, da erinnere ich mich dran.“ - Barbara Breindl war sechs Jahre alt, als sie mit ihrer schwangeren Stiefmutter und zwei Geschwistern die Stadt, in der sie geboren war, verlassen musste. Sie erinnert sich nur noch bruchstückhaft.
"Ich muss sagen: Gott sei Dank. Ich finde, das war ein Schutz. Wahrscheinlich habe ich gesehen und nicht gesehen, wie Kinder so sind oder meine Mutter hat uns umgedreht."
Denn spätestens am Stadtrand von Brünn entwickelte sich die schauerliche Prozession, in der fast die gesamte verbliebene deutschsprachige Bevölkerung der Stadt mitging, zum Todesmarsch. Fachleute sind sich weitgehend einig, dass etwa 5200 Menschen die gewaltsame Aussiedlung aus Brünn nicht überlebt haben. Sie starben an Entkräftung, Hunger, Durst, Krankheiten, durch Gewaltakte einzelner Bewacher und Vergewaltigungen. Der Todesmarsch von Brünn ist nicht das einzige, aber das brutalste Einzelereignis der sogenannten wilden Vertreibungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Tschechoslowakei.
Eine damals Sechsjährige erinnert sich
An einem heißen Julitag steht Barbara Breindl auf einer großen Wiese hinter dem Städtchen Pohrlitz unweit der österreichischen Grenze und circa 30 Kilometer von Brünn entfernt. Auf dem verdorrten Gras stehen sechs kleine Steinkreuze.
"Also wir waren auf einem Gefährt für Alte und Kranke. Ein Lichtblick in dieser dunklen Zeit. Und hier war ja irgendwo das Lager und meine Mutter ist also reingegangen, hat eine Tante gefunden, eine 78-Jährige oder etwas jünger. Und die Tante sagte: ‚Ich bin schon Witwe.‘ Also, sie hat ihren Mann tot oder sterbend unterwegs liegen lassen müssen. Man musste weiter. Und sie selber ist dann drei Wochen nachher an der Typhusepidemie gestorben. Hier irgendwo liegt sie. Nummer 124 in den Totenbüchern. Die Tante Klimsa.“
890 Tote liegen unter unseren Füßen auf diesem Feld bei Pohrlitz, auf dem bis vor wenigen Jahren unbeeindruckt von den darunterliegenden Toten Landwirtschaft betrieben wurde. In einer verlassenen Lagerhalle hinter Pohrlitz endete für die völlig erschöpften Menschen, die es bis dorthin geschafft hatten, der Marsch – aber nicht das Martyrium. Typhus und Ruhr brachen aus und rafften binnen Tagen Hunderte dahin.
"Überall saßen oder lagen Menschen. … Gerta hatte niemals zuvor so viele Menschen auf einmal gesehen. Sie stand eine Weile nur da und beobachtete das jammervolle Theater ermattet herumliegender Männer, Frauen und Kinder, aber hinter ihr drängten schon die nächsten Ankömmlinge herein", heißt es im Roman.
„Gerta – sie heißt mit ganzem Namen Gerta Schnirch – ist eine Romanfigur, die ich aus den Schicksalen von zwei, drei Frauen erschaffen habe, deren Geschichten ich aus Briefen oder aus Erzählungen kannte. Anhand dieser Figur erzähle ich die Erlebnisse von Frauen, die den sogenannten Brünner Todesmarsch im Mai des Jahres 1945 miterlebt haben.“
Eine Romanfigur zwischen den Fronten
Die Schriftstellerin Kateřina Tučková ist eine der ersten Autorinnen und Autoren in Tschechien, die das Thema der Vertreibungen literarisch verarbeitet haben. Ihr Roman „Die Vertreibung der Gerta Schnirch“ erschien 2009. 2018 folgte die deutsche Ausgabe unter dem Titel „Gerta. Das deutsche Mädchen“. Gerta steht gewissermaßen zwischen den Fronten. Sie hat einen deutschen Vater, der glühender Nazi ist, und eine tschechische Mutter. Nach dem Krieg gilt sie als Deutsche.
„Gerta war 1945 eine 21-jährige Frau mit einem sechs Monate alten Baby und musste das Haus verlassen, in das ich viele Jahre später eingezogen bin. Und weil Gerta 21 Jahre alt war, als sie Stadt verlassen musste, so alt wie ich damals, hat mich ihre Geschichte so angesprochen und ich habe mir die Frage gestellt, ob ein so junges Mädchen tatsächlich die Verantwortung trägt für einen Krieg, dass ein so grausames Urteil über sie verhängt wurde.“
Auf dem Feld hinter Pohrlitz haben sich etwa 150 Menschen versammelt. Der Bürgermeister von Pohrlitz legt einen Kranz an der Gedenkstätte nieder, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs an dieser Stelle errichtet wurde. Petr Kalousek tritt ans Mikrofon.
„Wir stehen an dem Ort, an dem vor 77 Jahren der sogenannte Todesmarsch endete. Und wie Sie wahrscheinlich wissen, haben viele diese gewaltsame Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung aus Brünn nicht überlebt und viele von ihnen sind hier beerdigt. Deshalb treffen wir uns hier, um ihrer zu gedenken.“
Damalige Wegstrecke wird abgelaufen
Petr Kalousek ist Direktor des Festivals „Meeting Brno“. Im Rahmen des Festivals findet der „Versöhnungsmarsch“ statt. Einmal im Jahr gehen Deutsche und Tschechen die Wegstrecke des damaligen Todesmarsches gemeinsam ab.
„Seit 2015 gehen wir den Weg, den die Menschen damals gelaufen sind, in umgekehrter Richtung. Damit bringen wir die deutschsprachige Bevölkerung symbolisch wieder zurück in – ich erlaube mir zu sagen – unsere gemeinsame Stadt“, sagt Kalousek.
Es ist jetzt 10:30 Uhr und der Marsch setzt sich langsam in Bewegung. Die älteren Leute bleiben zumeist hier und die jüngeren machen sich auf den Weg. Seit vielen Jahren habe ich mir vorgenommen, einmal den Brünner „Versöhnungsmarsch“ mitzugehen. Als Übersetzerin von Kateřina Tučkovás Roman „Gerta. Das deutsche Mädchen“ habe ich Gertas Angst und ihre Wut über das erfahrene Unrecht am Schreibtisch nachempfunden. Nun möchte ich den Weg mit eigenen Augen sehen und unter den eigenen Füßen spüren.
Zunächst windet sich der Zug entlang der Hauptstraße durch das pittoreske Städtchen Pohrlitz – Tschechisch Pohořelice – mit seinen stuckverzierten Fassaden.
Sudetendeutsche Landsmannschaft mit dabei
„Also ich bin noch im Sudetenland geboren, allerdings nicht hier in Südböhmen, sondern in Nordböhmen, und ich finde das also eine sehr, sehr gute Sache und ich wollte das schon immer mal mitmachen und bin heute hier Neuling.“
Siglinde Barwig trägt einen Strohhut gegen die brennende Sonne. Die 78-jährige Frau aus Heidelberg hat sich gemeinsam mit ihrem Sohn einer Reisegruppe der Sudetendeutschen Landsmannschaft angeschlossen, die zum Gedenken nach Brünn gereist ist. Hinter Pohrlitz gehen wir bei dichtem Verkehr an der Leitplanke, bis wir auf die alte Landstraße einbiegen.
„Die Idee war, den Verlauf des Todesmarsches von 1945 so gut wie möglich nachzugehen. Und es ist so, wie man jetzt vielleicht im Hintergrund hört – schnell fahrende Autos – die Hälfte des Weges gibt es heutzutage physisch nicht mehr. Sondern es ist eine vierspurige Schnellstraße darauf gebaut worden. Aber: Die erste Hälfte des Weges, da gehen wir tatsächlich über die sogenannte alte Wiener Straße von Brünn nach Wien.“
Idee für Marsch entstand Anfang der 2000er
Jaroslav Ostrčilík hatte Anfang der 2000er-Jahre die Idee, an den Brünner Todesmarsch zu erinnern, indem er den Weg der Vertriebenen gemeinsam mit Kommilitonen nachging. Der Mittdreißiger ist in Tschechien geboren, aber in Österreich aufgewachsen. Zum Studium ging er nach Brünn. Während das Thema der Vertreibungen in Österreich omnipräsent war, sprach man in Brünn überhaupt nicht darüber.
„Ich habe mir gedacht: diese Stadt, die zweisprachig war. Ihre Identität, die ganzen Geschichten, die die Stadt ausmachen, ihre Seele, wo die Hälfte von dem Ganzen einfach vertrieben und bewusst vergessen worden ist. Jetzt sind wir schon viel, viel weiter, aber am Anfang, die ersten Jahre, ging es nur darum, an das Ereignis zu erinnern, es zurück ins Bewusstsein der Menschen hier in Brünn, und nicht nur in Brünn, in ganz Tschechien, zurückzubringen.“
Es geht in sengender Hitze über eine Landstraße, rechts, links Felder. Die Sonne brennt, es sind mindestens 30 Grad, sicher mehr. Die Straße flimmert. Das Thermometer steigt an diesem Tag auf knapp 40 Grad. An der Straße gibt es kaum Bäume, die Schatten spenden könnten. Auch der 31. Mai 1945 war ein unerträglich heißer Tag.
„Weder sie noch Barbora oder die junge Frau neben ihr, keiner hier ging in einem Opfermarsch. Niemand würde später zählen, wie viele sie gewesen waren. Schon den ganzen Mai über hatte niemand die Toten gezählt, niemand hatte ihnen, den verbliebenen, auf den Straßen schuftenden Deutschen, gesagt, wohin all die anderen tagtäglich verschwanden. Gerta blieb stehen, ihr wurde übel, die müden Beine versagten ihr den Dienst, und plötzlich schaltete jemand das Licht aus.“ Nachzulesen im Roman von Tučková.
Gertas Angst war berechtigt – nach dem Ende eines Krieges, den die Deutschen entfesselt und dann verloren hatten. Und nach den Verbrechen der deutschen Besatzungsherrschaft.
1939 wurden Hakenkreuzfahnen gehisst
"Jenes Gebiet, das dem Volke nach deutsch ist und seinem Willen nach zu Deutschland gehört, kommt zu Deutschland!" Hitler am 26.09.1938 im Sportpalast Berlin.
Rückblende: Im September 1938 hatten die Alliierten im Münchener Abkommen zugestimmt, dass die Sudetengebiete, die mehrheitlich von einer deutschsprachigen Bevölkerung besiedelt waren, aus der Tschechoslowakei aus- und in das Deutsche Reich eingegliedert wurden. Hitler sollte befriedet werden, eine Fehlkalkulation. Im März 1939 besetzte Hitlerdeutschland auch den Rest des Landes.
„Das Straßenbild in Prag hat sich heute Morgen gewaltig verändert. Mit Tagesgrauen erschienen auf den Häusern die ersten Hakenkreuzfahnen. – In die mährische Hauptstadt Brünn sind deutsche Truppen heute Morgen gleichfalls eingerückt“, so ein Nachrichtensprecher am 15.3.1939.
Die neuen Herren auf der Prager Burg riefen das Protektorat Böhmen und Mähren aus und überzogen das Land mit einer erbarmungslosen Gewaltherrschaft: 265.000 tschechoslowakische Juden, Roma und Sinti wurden ermordet, über 70.000 aus der restlichen Bevölkerung.
1945 die Kapitulation
Der stellvertretende Reichsprotektor Reinhard Heydrich, einer der Architekten des Holocausts, kündigte an: „Ich habe den Willen, dass in der Zeit meiner stellvertretenden Tätigkeit die Wirtschaft Böhmens und Mährens besonders aktiver Teil der deutschen Wirtschaft mögen werde zum Wohle Großdeutschlands, zum Wohle des neuen Europas."
Die mährische Stadt Brünn war für die Nationalsozialisten von enormer Bedeutung. Dort befanden sich unter anderem die Brünner Waffenwerke Zbrojovka, die am Fließband Waffen für Hitlers Krieg herstellten. Um die Produktion nicht durch soziale Unruhen zu gefährden, wurden die Arbeiter mit zahlreichen Privilegien ruhiggestellt.
"Wir Endunterzeichneten, die wir im Namen des deutschen Oberkommandos handeln, erklären die bedingungslose Kapitulation aller unserer Streitkräfte...“ - Berliner Rundfunks am 8. Mai 1945.
Sechs Jahre Besatzungsterror und Krieg endeten mit der deutschen Kapitulation im Mai 1945. Nun entlud sich die Wut der Tschechen über die Naziherrschaft an der verbliebenen deutschen Bevölkerung. Die Funktionäre des Nazi-Regimes hatten bereits in den letzten Kriegstagen das Land verlassen.
Am 12. Mai hielt der aus dem Exil zurückgekehrte tschechische Präsident Edvard Beneš in Brünn eine Rede, die Folgen hatte: „Jetzt gehen wir gleich an die Arbeit. Und wir werden Ordnung unter uns machen, besonders auch hier in der Stadt Brünn mit den Deutschen und allen anderen. Mein Programm ist, ich verheimliche es nicht, dass wir die deutsche Frage in der Republik ausliquidieren müssen. In dieser Arbeit werden wir die ganze Kraft von euch allen brauchen.“
Angesprochen fühlten sich eben jene Mitarbeiter der Brünner Waffenwerke, die daraufhin zur Vertreibung der deutschsprachigen Brünner Bevölkerung drängten. Gemeinsam mit Rotarmisten, Angehörigen der Revolutionsgarden und Partisanen schritten sie am 30. Mai 1945 und den Tagen darauf zur Tat.
„Nur nicht provozieren, ermahnte sich Gerta, vom vorausgegangenen Tag wusste sie nur allzu gut, wozu diese jungen Herren des Geschehens fähig waren. […] Gerta war dabei gewesen, als sie einer älteren, korpulenten Frau einfach den Finger abhackten, weil es ihr nicht gelang, den Ring vom Finger zu ziehen. Und als die Wunde nicht aufhörte zu bluten, stachen sie die Frau einfach ab wie ein Schwein.“ So schildert Tučková das Grauen in ihrem Roman.
Ablehnende Reaktionen auf ersten Lesungen
„Die Reaktionen auf den ersten Lesungen waren sehr ablehnend, weil viele Leser nicht akzeptieren konnten, dass ich das Kriegsende mit den Augen eines deutschen Mädchens beschreibe, und sie meinten, dass das Mädchen dieses Schicksal gewissermaßen verdient habe. Die Debatten waren oft hitzig. Das ging so weit, dass ich beleidigt wurde. So etwa beschuldigte mich ein älterer Leser, ich würde den Holocaust leugnen.“
In den Jahrzehnten des Kalten Krieges wurde über die Vertreibungen geschwiegen. Nach der Samtenen Revolution von 1989 begann die junge Generation in Tschechien Fragen zu stellen. Im Jahr 2000 verfassten Studenten, die sich Jugend für interkulturelle Verständigung nannten, einen Aufruf, in dem sie eine Entschuldigung der Stadt Brünn forderten: „Wir sind uns der unvergleichlich zahlreicheren Verbrechen des Naziregimes bewusst, aber wir stellen gleichzeitig fest, dass Leid, ganz gleich, von wem und wann verursacht, immer Leid bleibt.“
„Ich denke, dass mit meiner Generation tatsächlich die Zeit reif war für dieses Thema“, meint Kateřina Tučková. „Der Krieg hat uns persönlich nicht betroffen und liegt lange zurück. Plötzlich interessierten sich überall in Tschechien junge Leute für das Thema. Irgendwie hat jeder für sich angefangen, aber weil die Zeit reif dafür war, haben wir uns dann alle im Umfeld des Festivals 'Meeting Brno' wiedergefunden, in dessen Rahmen der Versöhnungsmarsch stattfindet.“
Gemeinsam an die Ereignisse erinnern
Zurück vor Ort: Jetzt sind wir kurz vor Ledetz. Die Hitze ist kaum auszuhalten. Wir sind jetzt so ein bisschen ans Ende gekommen. Durch die richtig guten Gespräche. Die halten einen so bisschen in Trab, weil alle hier mit ihrer eigenen Geschichte herkommen.
„Ich bin hier, weil meine Urgroßmutter auf diesem Marsch gestorben ist. Deshalb bin ich gekommen, um den Versöhnungsmarsch mitzugehen. Wir haben etwa zehn Kilometer geschafft, das war genug. Wir fahren dann mit dem Bus zurück nach Brünn. Meine Urgroßmutter war älter, es muss sehr hart für sie gewesen sein.“ David Iltis ist aus den USA angereist, er ist schon zum dritten Mal in Brünn. In diesem Jahr wird sein Großvater auf dem Festival „Meeting Brno“ mit einer Ausstellung gewürdigt. Denn Hugo Iltis hat die erste Mendel-Biografie verfasst, die lange Zeit als Standardwerk galt.
„Mein Vater, mein Großvater, meine Großmutter und mein Onkel – sie kamen alle aus Brünn. Sie mussten das Land Ende 1938 verlassen, um vor den Nazis zu fliehen. Mein Großvater war der Wissenschaftler Hugo Iltis. Er hielt überall in Europa Vorträge, um die Rassentheorien der Nazis zu widerlegen.“
In Ledetz – oder Ledce auf Tschechisch – ist Halbzeit. Am zentralen Kreisverkehr verteilen Helfer Suppe und Fettbemmchen an die erschöpften Mitlaufenden. Zuzana Frimmlová liegt auf ihre Ellbogen gestützt auf einer Wiese. Sie kommt aus Ostrava und geht schon zum dritten Mal die ganze Strecke.
„Mir gefällt das, dass sich hier so eine Gruppe von Leuten trifft, die etwas gemeinsam haben und sich an die Ereignisse erinnern. Wenn ich mit jemandem in Ostrava darüber reden wollte, dann würde man mich erstaunt anschauen und hier sind so viele Menschen, mit denen ich darüber reden kann.“
Stadt unterstützt seit 2015 den Marsch
Ab Ledce gehen wir auf Feldwegen und kleinen Pfaden direkt neben der Schnellstraße. Jaroslav Ostrčilík führt den Zug an. Wolken ziehen auf und es weht ein erfrischendes Lüftchen.
„Die ersten acht Jahre, als es noch Gedenkmarsch geheißen hat, da waren wir am Anfang ein paar Dutzend. Bis zum Ziel gekommen sind wir 4, 5, 6 oder so. 2015, als es das erste Mal als Versöhnungsmarsch stattgefunden hat, da waren wir am Anfang bei der Eröffnung so 300 oder sowas und am Ziel ungefähr tausend Leute!“
„Nach den Kommunalwahlen im Jahr 2015 gab es eine neue Stadtregierung. Und ich habe vorgeschlagen, dass wir zum 70. Jahrestag der Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung aus Brünn als Stadt etwas organisieren. So initiierten wir das 'Jahr der Versöhnung'. In diesem Jahr fanden eine ganze Reihe von Veranstaltungen statt, die an das Kriegsende erinnerten. Der bisherige Gedenkmarsch wurde dann das erste Mal offiziell von der Stadt unterstützt und in Versöhnungsmarsch umbenannt. Da sind wir auch das erste Mal in die umgekehrte Richtung gegangen, von Pohrlitz nach Brünn. Und der Stadtrat von Brünn hat die Versöhnungsdeklaration verabschiedet“, sagt der Musiker und Kommunalpolitiker Petr Kalousek, heute Direktor des Festivals „Meeting Brno“.
Junge Menschen forderten eine Entschuldigung
Jahr für Jahr hatten junge Menschen in Brünn die Stadt aufgerufen, sich bei den Opfern des Todesmarschs zu entschuldigen. 2015 ging die neu gewählte Stadtregierung auf diese Forderung ein: „Die Stadt Brünn bereut aufrichtig die Geschehnisse vom 30. Mai 1945 und den nachfolgenden Tagen, als Tausende Menschen aufgrund des angewendeten Kollektivschuldprinzips oder aufgrund ihrer sprachlichen Zugehörigkeit zum Verlassen der Stadt gezwungen wurden.“
„Was die Entschuldigung im Jahr 2015 angeht, hat der damalige Oberbürgermeister der Stadt, Petr Vokřál, eine entscheidende Rolle gespielt. Er war nicht der erste Politiker, denken wir etwa an Havel, der als erster die Vertreibung bedauert hat, aber er war damals ziemlich allein damit. Nun äußerten sich so viele Menschen zu dem Thema, dass dieser Schritt sicher immer noch politisch riskant war, aber das Risiko war eben geringer als früher“, sagt Kateřina Tučková.
Damit ist die Stadt Brünn Vorreiterin in Tschechien. Noch keine andere Gemeinde hat öffentlich Gewaltexzesse an deutschsprachigen Mitmenschen nach dem Krieg bedauert. Die tschechische Regierung hingegen entschuldigte sich 2005 bei deutschen Antifaschisten für deren Vertreibung.
2015 fand auch das Festival „Meeting Brno“ zum ersten Mal statt. Das Festival erinnert jedes Jahr im Sommer mit einer Reihe von Veranstaltungen, wie Lesungen, Führungen und Podiumsdiskussionen, an das deutsch-jüdisch-tschechische Erbe der Stadt. Gründungsdirektorin des Festivals ist die Schriftstellerin Kateřina Tučková.
„Wir hatten eine Reihe von Veranstaltungen zum Thema Vertreibung vorbereitet. Damals verknüpfte sich das alles mit der beginnenden Flüchtlingswelle aus Syrien, damit wurde das Thema der Bevölkerungsbewegungen nach dem Krieg brandaktuell als Frage von heute.“
Das letzte Stück des Versöhnungsmarschs entlang der Schnellstraße durch scheinbar endlose Gewerbegebiete laufe ich wie mechanisch. Nach weiteren acht endlosen Kilometern treffen wir am Deutschen Gymnasium von Brünn ein.
Neonazis und Kommunisten protestieren
„Vor dem Mendelplatz sind Proteste der Brünner neonazistischen und kommunistischen Szene angekündigt. Wir gehen eng zusammen und wenn wir dort sind, dann gehen wir noch etwas schneller, um die Kontaktzeit mit den Protestierenden möglichst gering zu halten. Bitte probieren Sie nicht, ihnen irgendetwas zu erklären. Die wollen keine Erklärung“, sagt Petr Kalousek.
Die letzten 600 Meter zum Mendelplatz ist unsere Gruppe von knapp 50 auf mehrere Hundert Mitläufer angewachsen. In Dreierreihen schieben wir uns den engen Bürgersteig entlang.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite kommen etwa 30 Leute in Sicht, die – sobald sie uns erblicken – Transparente in die Höhe recken und die Nationalhymne anstimmen. Eine Frau verteilt Flyer, auf denen auf Deutsch steht: „Sudentendeutsche, ihr seid hier nicht willkommen! […] Niemand hier interessiert sich für Sie. Nächstes Jahr solltet Ihr euch lieber in Auschwitz oder Dachau treffen.“
Hubert Reiter aus München erlebt die Szene nicht zum ersten Mal. „Ja die halten Plakate hoch mit 'Heim ins Reich'. Das ist antiquiert.“
Und Petr Kalousek meint: „Wenn Extremisten, ob Neonazis oder Kommunisten, gegen etwas, das wir tun, protestieren, dann denke ich, tun wir genau das Richtige. Die Proteste sind, was ihren Umfang und ihre Bedeutung betrifft, marginal und machen uns das Erlebnis nicht kaputt.“
Lesungen als "Gruppen-Therapien"
Die Schriftstellerin Kateřina Tučková ist mit ihrem Buch „Die Vertreibung der Gerta Schnirch“ in ganz Tschechien unterwegs gewesen. Im Rückblick bezeichnet sie die Veranstaltungen als Gruppen-Therapien.
„Oft lief es dann so, dass, wenn mich jemand angriff, jemand anderes aus dem Publikum sich meldete und eine eigene tragische Geschichte aus dem Krieg einbrachte. Und wenn sie ihre Geschichten erzählten, merkte man, dass dieses Trauma, dieser Schmerz immer gleich war, egal auf welcher Seite der Barriere die Menschen gestanden hatten. Ich denke, dass auch die tschechische Gesellschaft dieses therapeutische Momentum erlebt hat. Meine Lesungen sind heute ganz anders. Viele wissen etwas über das Thema, sie stellen informierte Fragen und ich werde nicht mehr mit oberflächlichen Meinungen konfrontiert oder beleidigt. Ich denke, es ist einfach kein Problem mehr.“
Unter dem Glockengeläut der Klosterkirche strömt die Menschenmenge auf den Hof des Augustinerklosters. Vor der Mendelstatue ist eine große Bühne aufgebaut. Es sprechen Politiker aus Deutschland und Tschechien und der deutsche Botschafter. Diejenigen, die den Weg gelaufen sind, liegen ermattet auf der Wiese im Klostergarten, massieren ihre Füße und Beine.
Im Anschluss gehen alle auf die andere Seite des Klosterhofes zu dem großen grauen Gedenkstein, der seit 1995 an den Todesmarsch erinnert. Sie entzünden Kerzen, halten inne. Dann fassen sie sich an den Händen und bilden einen großen Kreis. Viele sind bewegt, manchen stehen Tränen in den Augen.
Barbara Breindl, die als Sechsjährige den Brünner Todesmarsch selbst erlebt habt, ist vor 17 Jahren wieder in ihre Heimatstadt gezogen. „Ja, ich gehöre zu den Exoten, die zurückgekehrt sind. Kein Mensch kommt sonst zurück. Also diese Angst, dass die Sudetendeutschen zurückkommen, ist völlig unrealistisch. Da kommt niemand zurück.“
Die 83-jährige energische Frau lernt Tschechisch als Autodidaktin. Ablehnung seitens der Brünner spüre sie keine. „Außer im Haus. Da war so ein Mann, der fragte mich, woher ich komme und ich mein übliches Sprüchlein: ‚Ich bin zurückgekehrt‘, da schreit er mich an: ‚Verschwinden Sie hier!‘ und so. Ich habe gedacht, um Gottes Willen, was ist denn das? So ein alter Kommunist. Jetzt küsst er mir die Hand inzwischen. Ja, so ändern sich die Zeiten.“