Martha Nussbaum: "Kosmopolitismus. Revision eines Ideals"
Aus dem Englischen von Manfred Weltecke
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2020
352 Seiten, 30 Euro
Ein Friedensangebot in einer feindseligen Debatte
05:22 Minuten
Die US-amerikanische Philosophin Martha Nussbaum nähert sich dem Kosmopolitismus jenseits aller aktuellen politischen Streitigkeiten um globale Eliten und lokale Milieus und zeigt: Kosmopolitismus ist eine für jede Ethik grundlegende Idee.
Prominente Stichwortgeber der Neuen Rechten haben sie zum Kampfbegriff umzuwerten versucht: die "kosmopolitischen Eliten". Das sind in ihrem Weltbild jene abgehobenen Teile der Gesellschaft, die für die Bedürfnisse der ehrlich arbeitenden, in ihrer Heimat verwurzelten normalen Bürger kein Verständnis mehr aufbringen können – und mithin ein bevorzugtes Feindbild. Auch die Soziologin Cornelia Koppetsch hat diese Gegenüberstellung in ihrem (bis zum Plagiatsskandal) viel gelesenen Buch "Die Gesellschaft des Zorns" aufgegriffen: Für sie sind die "kosmopolitischen Eliten" vor allem ökonomische und kulturelle Profiteure der Globalisierung, die sich in ihren urbanen Enklaven ebenso effektiv gegen alles andere abschotten wie die Wählerschaft der Neuen Rechten.
Gleiche Würde
Da ist ein wenig Begriffsklärung vielleicht ganz hilfreich: Worüber reden wir eigentlich, wenn wir über Kosmopolitismus reden? Darüber hat die US-amerikanische Philosophin Martha Nussbaum jetzt ein überaus instruktives Buch geschrieben; auch sie geriet wegen der Verteidigung dieses Begriffs schon ins Visier der Neuen Rechten in den USA. Für den Kosmopolitismus einzutreten, das bedeutet für Nussbaum zunächst nichts Anderes, als dass man für den Universalismus der Menschenrechte eintritt und für die Idee, dass alle Menschen die gleiche Würde besitzen und das gleiche Recht zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit - egal, in welchem Teil der Welt sie geboren wurden, egal, was ihr Geschlecht und ihre ethnische Herkunft ist und zu welcher Religion sie sich bekennen.
Moralische Verpflichtung
Diese Idee ist aber nichts anderes als das Fundament jeder Moralphilosophie. Das zeigt Nussbaum in einem Durchgang durch deren Geschichte, beginnend bei den ersten Texten, die aus der Frühzeit der abendländischen Philosophie überliefert sind, von dem kynischen Denker Diogenes über die Stoiker bis zu dem römischen Philosophen Cicero. In der Neuzeit sind ihre Gewährsleute der niederländische Reformtheologe Hugo Grotius (1583-1645) und der schottische Aufklärer und Ökonom Adam Smith (1723-1790), die beide für einen moralischen Universalismus eintreten.
Während Smith heute zu Unrecht bloß noch als Verfechter des ungehinderten Freihandels, also als Vordenker des moralisch indifferenten globalen Kapitalismus betrachtet wird, hat gerade er sich früh schon jenem Problem gewidmet, das Nussbaum als zentrale Herausforderung auch für den heutigen Kosmopolitismus sieht: dass die moralische Verpflichtung zum Kampf für Menschenrechte sich nicht auf die Bereiche der Politik und des Rechts beschränken kann, sondern immer auch ökonomische Fragen berührt. Oder anders gesagt: Wohlhabende Nationen befinden sich in der moralischen Pflicht, überflüssige Reichtümer an ärmere Nationen umzuverteilen.
Kosmopolitismus und Patriotismus
Nussbaum verwendet viel geistesgeschichtlichen und begrifflich-systematischen Aufwand darauf, diese Pflicht aus elementaren moralischen Regeln abzuleiten; auf die Frage, wie sie sich am besten in reale Politik umsetzen lässt, hat sie aber auch keine befriedigende Antwort. Die interessantesten Stellen in ihrem Buch sind darum jene, an denen sie über die Motivation zum moralischen Handeln nachdenkt. Das hat ihren Ansatz schon immer von anderen Formen der liberalen Moralphilosophie unterschieden: Anders als etwa Jürgen Habermas in seiner Diskursethik beschränkt Nussbaum sich nicht auf die formale Erörterung von Prinzipien und Normen, sondern stellt dazu stets die Frage, wodurch man in der tagtäglichen Existenz überhaupt zum moralischen Handeln gebracht wird.
In früheren Werken hat sie sich etwa mit Tugend, Glück und moralischen Gefühlen befasst. Bei der Reflexion auf den Kosmopolitismus sind es nun interessanterweise gerade die Nation und die damit verbundenen Emotionen, deren gemeinschaftsstiftende Kraft ihrer Ansicht nach das Individuum dazu bringen, sich überhaupt seiner Verantwortung für Menschen jenseits der engsten Umgebung bewusst zu werden. So erscheinen am Ende die scheinbar unverträglichen Haltungen des Patriotismus und Kosmopolitismus bei Nussbaum als unzertrennlich und dialektisch verschränkt. Man kann dieses Buch auch als Friedensangebot in einer gegenwärtig nur feindselig geführten Debatte verstehen.