Martin Hecht: "Die Einsamkeit des modernen Menschen. Wie das radikale Ich unsere Demokratie bedroht"
Dietz Verlag, Bonn 2021
203 Seiten, 18 Euro
Gefühlte Gefahren
07:00 Minuten
Ist Einsamkeit der Preis moderner Freiheit? Der Publizist Martin Hecht beklagt eine Gesellschaft der Selbstbezogenen und warnt dramatisch vor den Folgen. Sein Urteil fällt aber auf ihn selbst zurück.
Dieses Buch erzählt davon, wie sich der moderne Mensch sein Unglück selbst besorgt, indem er Aufmerksamkeit oder Bestätigung anderer erstrebt. Wer sich gelobt, beachtet oder bestätigt sieht, falle auf eine Mogelpackung herein, spüre das früher oder später und stürze in die Einsamkeit. Um sie zu verlassen, werde immer wieder die Beachtung anderer gesucht - mit ähnlichem Ergebnis. Ein Hamsterrad also.
Es wird gemahnt, beklagt und gewarnt
"Es geht hier (…) um die ‚Einsamkeit in der Vereinzelung‘, eine Einsamkeit, die nicht so sehr als individuelle Begleiterscheinung einer unglücklichen Biografie verstanden wird, sondern als eine Art soziales Virus, das kollektiv über die gesamte Gesellschaft gekommen ist, seit diese in jenes Stadium eingetreten ist, das geprägt ist vom modernen Individualismus. Diese Einsamkeit der isolierten Individuen ist in den Wohlstandsgesellschaften demokratischen Zuschnitts inzwischen omnipräsent und nahezu täglich spürbar."
Die Klage gilt dem Individualismus, also einer jahrhundertelangen Entwicklung oder auch Befreiungsbewegung aus einem Leben in Fremdbestimmung hin zu angestrebter Selbstbestimmung der einzelnen Menschen. Im heutigen Ergebnis dieser Entwicklung sieht der Autor jedoch eine Missbildung der Anfangsidee, er sieht eine "Gesellschaft der Selbstbezogenen". So wird in diesem Buch gemahnt, beklagt und gewarnt.
Einsamkeit als angeblicher Preis der Freiheit
Seit Menschen nicht mehr in Knechtschaft hineingeboren seien, hätten sie einen hohen Preis zu zahlen: "Denn die Befreiung bedeutet, Abschied von den anderen zu nehmen, und indem es die alten Verbindungen durchtrennt, spürt das Ich erst, dass es allein zurückbleibt. Auf die kürzeste Formel gebracht: So wie die Freiheit in der Gesellschaft mit einer gewissen Kälte erkauft wird, war zuvor die Unfreiheit der Preis für die Wärme in der Gemeinschaft."
Eine Unfreiheit, die ihren Lauf nehme, sobald zur Stabilisierung des Ichs Zuneigung anderer gesucht oder Aufmerksamkeit erstrebt werde. In der Welt der Moderne folge garantiert die Enttäuschung. Um Lustgewinn und Anerkennung trotzdem zu gewinnen, werde der Einsatz erhöht. Worauf die Enttäuschung noch größer ausfällt. Die Folge sei eine noch stärkere Vereinsamung.
Verallgemeinerungen statt differenzierten Blicks
Martin Hechts Generalisierung hat allerdings einen Nachteil: Wenn ich selbst an Menschen denke, die ich etwas, etwas besser oder auch gut kenne, dann gibt es kaum eine Verbindung zwischen ihnen und den im Buch als Naturgesetz geschilderten Zuständen. Es sind zwei verschiedene Welten. Aber nicht, weil ich von glücklichen Menschen umgeben bin, sondern weil Hecht am liebsten verallgemeinert. Wie hieß es eben noch mal?
"(…) und indem es die alten Verbindungen durchtrennt, spürt das Ich erst, dass es allein zurückbleibt." Das Ich. Also alle.
Wörter wie "alle", "jeder" und "immer" begegnen einem in fast jedem Absatz. Differenzierung ist die Sache des Autors nicht. Er hantiert vorzugsweise mit dem Universalschlüssel. Die Grenzen der vorliegenden 200-seitigen Verallgemeinerung zeigen sich dann, wenn der Autor konkret wird.
Statistiken widersprechen Aussagen des Buchs
Das Internet ist in seinen Augen die schlimmste Vereinzelungs- und Vereinsamungsmaschine. Vorzüge des Internets kennt er nicht. Für ihn ist es gleichbedeutend mit sozialen Medien, über die er ausschließlich schreibt. Schon klar, Aufmerksamkeit ist dort die Währung - aber macht das alle User zu Opfern?
Verdammt werden hier Selfies und Fotobearbeitungsprogramme ebenso wie Fitnessstudios, weil Vorstellungen vom Selbst modelliert würden, die das Leben nicht hergebe. Offenbar kennt der Autor kein Fitnessstudio von innen. Überall Einzelkämpfer, die natürlich bindungsgestört sind und vereinzelt leben.
Beziehungen gingen in die Brüche, schreibt Hecht: "Aber diese Form der Einsamkeit – ausgelöst durch den zunehmenden Verlust von Lebenspartnern und Freunden – kommt heute noch erschwerend hinzu. Die Statistiken, in denen die Zahlen für Scheidungen und Trennungen festgehalten werden, sie sind hinreichend bekannt."
In der Tat, das sind sie. Ein Blick in die Statistiken hätte dem Buch nicht geschadet, denn Ehescheidungen sind in Deutschland seit 2004 rückläufig – bei ansteigender Einwohnerzahl und zunehmenden Eheschließungen.
Eine weitere Folge der beklagten Vereinzelung sei der Suizid, legt der Autor nahe, indem er sich an eine These Émile Durkheims von 1887 anlehnt und behauptet, sie treffe heute mehr denn je zu. Die Statistik sagt allerdings aus, dass die Zahl der Suizide sich in Deutschland seit 1981 halbiert hat. Ein Blick ins verschmähte Internet hätte auch hier gereicht.
Eigene Hypothese absichern
Der Autor unterschätzt die geübten, routinierten Bewohner der modernen Welt, die unterscheiden können, was sie betrifft und was nicht. Die sich nicht von am Wegesrand lungernden Glücksversprechen kirre machen lassen. Was der Autor unterschätzt, das sind reale Menschen. Für sie mag sein Buch gemacht sein. Aber es erzählt nicht von ihnen.
Mein Urteil zu diesem Buch hat der Autor selbst verfasst: "Das Ressentiment, das sich regt, wird zur Quelle des publizistischen Arguments – und bleibt es bis zum Ende der ‚Beweisführung‘. Da auch ohne weitere Recherche feststeht, was am Ende herauskommt, geht es nur noch darum, der eigenen Hypothese bereits vorgefertigte Schablonen anzulegen und sie dadurch abzusichern. Bei dieser impulsiven Verfertigungstechnik wird ein Stoff nicht wirklich ergebnisoffen erörtert, sondern der gefühlte Anfangsverdacht wird nachträglich mit allerlei Material angefüllt, bis man meint, seinem inneren Auftrag Genüge geleistet zu haben."
Die vom Autor beklagte Selbsterhöhung des vereinsamten vereinzelten modernen Menschen ist eben auch eine Selbstbeschreibung.