Martin Mettin: "Kritische Theorie des Hörens. Untersuchungen zur Philosophie Ulrich Sonnemanns"
Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 2020
392 Seiten, 49,99 Euro
Die Welt mit den Ohren sehen
07:20 Minuten
Die Welt erkennen wir meistens mit den Augen. Das Hören als Weg der Erkenntnis fristet dagegen eine kümmerliche Existenz, auch in der Philosophie. Zu Unrecht, wie der Philosoph Martin Mettin zeigt.
Dumpfe rhythmische Schläge unter Wasser - so hört es sich für einen Embryo im Mutterbauch an. Was für uns nach U-Boot klingt, wirkt auf Babys auch noch nach der Geburt beruhigend. Wenn man ihnen diese Töne vorspielt, schlafen sie besser. Der Hörsinn ist am Beginn unseres Lebens viel wichtiger als das Sehen. Aber in der Philosophie hat das Gehör als Mittel der Erkenntnis im Vergleich zum Auge über Jahrtausende nur eine marginale Rolle gespielt, erklärt der Philosoph Martin Mettin:
"Ganz viele Metaphern der Philosophie, wo es um Erkenntnis geht, sind sehr stark mit dem Sehen verbunden. Man denke an so etwas wie Aufklärung, das Optische schwingt da mit, das Licht schwingt da mit."
Dominanz des Sehens in der Philosophie
Schon die Griechen gaben dem Sehen den Vorzug, das griechische Wort "Theoria" bedeutet "Schau". Ab der Frühen Neuzeit, so Mettin, sei die Dominanz des Sehens sogar noch gewachsen:
"Hans Blumenberg hat ganz schön gezeigt, dass im Zuge des Aufklärungsprozesses die optischen Metaphern immer weiter an Bedeutung gewonnen haben. Für experimentelle Verfahren zum Beispiel ist es besonders wichtig, Dinge optisch auch vorführen zu können. Gleichzeitig hat dann ein Begriff wie Evidenz, also der Sichtbarkeit, für Wahrheit an Bedeutung gewonnen."
Das subversive Potential des Hörens
Mettins neues Buch "Kritische Theorie des Hörens" befasst sich mit dem Hören in der Philosophiegeschichte und zeigt, dass es trotz dieser Dominanz des Sehens immer auch eine andere Seite gab. In der jüdischen Überlieferung etwa stand das gesprochene Wort an erster Stelle, Diskurs war wichtiger als Dogma. Das Verbot bildlicher Darstellungen Gottes richtete sich gegen den Götzendienst, dem das Bild Vorschub leisten würde.
Im Untertitel heißt Mettins Buch "Untersuchungen zur Philosophie Ulrich Sonnemanns". Der 1912 in Berlin geborene Denker sprach von einer Tyrannei des Auges, dem Gehör habe er dagegen ein subversives Potential zugewiesen, sagt Mettin:
"Die Bedeutung, die die Flüchtigkeit beim Hören hat, das ist etwas, was sich bei Kant findet, aber auch schon bei Augustinus. Wenn wir Dinge, festhalten wollen, das geht zwar, aber das geht nur im Modus der Erinnerung. Also wir können uns an etwas erinnern, das wir gehört haben oder wir können uns in eine erwartende Haltung begeben. So können wir eine Melodie im Kopf präsent haben, aber die Präsenz ist sich sehr bewusst, dass es nichts Dingfestes ist."
Die Flüchtigkeit des Gehörten
Ein hallender Wassertropfen: Sobald man einen Ton hört, ist er schon wieder weg. Das sei laut Sonnemann der Grund, "warum das Hören weniger dazu neigt zu behaupten, das was es erkannt hat, sei dingfest zu machen in einer niedergeschriebenen Wahrheit."
Das heißt, die Sichtbarkeit eines Gegenstands verleite dazu, ihn als gegeben hinzunehmen. Das Ohr dagegen neige aufgrund der Flüchtigkeit der Töne dazu, das Wahrgenommene stärker zu hinterfragen und habe damit ein kritischeres Potential als das Auge. Außerdem habe das Gehör ein höheres Sensorium für unser verdrängtes Triebleben. Diesen Gedanken entwickelte Sonnemann aus seiner Arbeit als Therapeut.
In der Psychoanalyse sieht die Patientin den Psychiater nicht, stattdessen dringe das Unterbewusste nur sprachlich hervor. Wenn der Patient um Worte ringe, stocke oder stammle, komme das Körperliche der Sprache zum Ausdruck. Für Sonnemann war Denken untrennbar abhängig vom Körper. Diese Vorstellung setzte er Descartes' Diktum "Ich denke, also bin ich" entgegen, das die abendländische Vorstellung eines Dualismus' von Geist und Körper fatal geprägt habe.
Unbewältigtes heraushören
Aus der Therapiearbeit habe Sonnemann auch geschichtsphilosophische Thesen abgeleitet. so Mettin: "Eine Grundthese Sonnemanns ist, die kommt auch ein Stück weit aus der Psychoanalyse, dass die ganzen Konflikte aus der Vergangenheit, wenn sie nicht bearbeitet werden, einen fatalen Hang dazu haben, wiederzukehren."
Ausgerechnet im Zeitalter der Vernunft hätten sich, so Sonnemann, die schlimmsten Barbareien ereignet. Für ihn eine Folge der verdrängten irrationalen Natur des Menschen. Als Jude 1933 ins Exil getrieben, kehrte Sonnemann in den Fünfzigerjahren in die Bundesrepublik zurück und wurde zur wichtigen öffentlichen Stimme. Er kritisierte die Verdrängung der NS-Zeit und engagierte sich unter anderem 1968 gegen die Notstandsgesetze: "Wir warnen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, damit sie später in einem zweiten 1945 nicht sagen können, sie seien nicht gewarnt gewesen."
Die Hellhörigkeit gegenüber dem Unbewältigten, das er auch in der Übernahme von NS-Sprache etwa in der Studentenbewegung sah, setzte er geschichtsphilosophischen Modellen einer linearen historischen Entwicklung entgegen. Diese neigten dazu, die Nachtseiten des Fortschritts zu verdrängen statt sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Geschichte sei, so seine Kritik an Marx, unberechenbar und immer durchbrochen von dem, was Sonnemann Ereignisse nannte: "Zum Ereignischarakter gehört das unvordenkliche Auftauchen. Ohne das gibt es kein Ereignis, ohne Ereignis wiederum keine Geschichte."
Hellhörigkeit für das Unerwartete
Ein zentraler Begriff bei Sonnemann ist Spontaneität. Nur ein Denken, das für Unvorhersehbares und Widersprüche offen ist, schaffe neue Ideen. Sabotage des Schicksals nannte Sonnemann dieses Prinzip. Die Hellhörigkeit für das Mögliche, das nicht determiniert von Vergangenheit oder Zukunft ist, funktioniere wie ein Musikerlebnis:
"Eine Zeitwahrnehmung, die sich stärker auf das Hören fokussiert, ist eine musikalische Zeitwahrnehmung, die nicht einfach fortschreitet, sondern immer wieder in den Modus des Erinnerns, des Innehaltens und Durchbrechens dieser linearen Logik verfängt. Und das wäre sozusagen eine Zeitwahrnehmung, die sich auf das Hören verlässt, wie man sie aus einer glückenden Musikerfahrung kennt."
Der "Tristanakkord" aus Wagners "Tristan und Isolde", mit dem die Dissonanz in die Musik kam, war für Sonnemann ein solches Ereignis, in dem Schicksalsglaube und Möglichkeitssinn aufeinandertreffen. Aus dem öffentlichen Bewusstsein ist Sonnemann nach seinem Tod 1993 verschwunden. Es ist ein großes Verdienst Martin Mettins, der Sonnemanns Werk in seiner "Kritischen Theorie des Hörens" umfassend philosophiegeschichtlich einordnet, an diesen wieder sehr aktuellen Denker zu erinnern:
"Diese mikrologische Methode, könnte man fast schon sagen, etwas über die sozialpsychologischen Befindlichkeiten von Gesellschaften anhand ihrer sprachlichen Verlautbarungen auszusagen, diese Methode wäre etwas, was man unbedingt fortführen sollte."