Martin Meyer: "Gerade gestern. Vom Allmählichen Verschwinden des Gewohnten"
Hanser, München 2018
320 Seiten, 23 Euro
Über die Furie des Verschwindens
Als Tätowierungen noch Seeleuten vorbehalten, senfgelbe Teppichböden im Wohnzimmer üblich oder Krawatten bei Männer selbstverständlich waren - Martin Meyer, ehemaliger Kulturchef der "NZZ", blickt in 86 pointierten Prosastücken auf Vergangenes und Verschwundenes zurück.
Vier Jahrzehnte war der 1951 geborene Martin Meyer im feuilletonistischen Einsatz: als "Redaktor" der Neuen Zürcher Zeitung, lange als deren Kulturchef. So ist er zum Zeugen der Vergänglichkeit geworden. Denn gerade in jenem Betrieb, der die vermeintlich ewigen Werte der Kultur hochhält, geht es oft besonders schnelllebig zu.
In seinem neuen Buch, einer Sammlung von 86 Prosastücken mit je zwei bis vier Seiten Länge, begibt sich Meyer auf die Suche nach der verlorenen Zeit. Epochen gehen meist nicht mit Krach und Rauch unter; sie entschwinden eher unmerklich. Und plötzlich ist sie vorbei – zum Beispiel die Ära des Playboys oder des Pfeifenrauchers.
Revolutionen im Redaktionsalltag
Immer wieder geht es um die Veränderungen der Medien und der Apparaturen der Kommunikation. Wie revolutionär das alte Schwarz-Weiß-Fernsehen in die Haushalte hineinwirkte, wird deutlich, wenn Meyer von seiner Großmutter erzählt, die sich immer gut anzog, bevor sie sich Karl-Heinz Köpcke aussetzte. Denn sie war nicht davon abzubringen, dass nicht nur sie ihn, sondern der strenge Nachrichtensprecher auch sie sehen könne.
Der Journalist blickt auf den vordigitalen Redaktionsalltag zurück, als Texte nicht schon im Moment des Schreibens auf dem Bildschirm fertig waren, sondern erst einmal ins Metall gehen mussten. Die Setzer saßen den Schreibenden im Nacken, Zeitungen entstanden – oft noch mehrmals täglich – unter enormem Zeitdruck, der Beruf des Redakteurs war "eine Soldatenfron mit schwerem Gerät". So gesehen, hat die Medienarbeit sich heute entschleunigt, auch wenn die Breaking News schneller unterwegs sind.
Wehmut ohne Kulturpessimismus
Bisweilen trauert Meyer als Vertreter eines engeren Kulturbegriffs den Zeiten hinterher, als Kroaten um den Hals – so die Etymologie des Begriffs Krawatte – noch eine Conditio sine qua non für den Herrn waren und die Selbstbeschädigung durch Tätowierung Seeleuten und Sträflingen vorbehalten war. Er registriert den Verlust der bildungsbürgerlichen Belesenheit, den Niedergang der gepflegten Handschrift und der Suhrkamp-Kultur, die richtige Bücher im falschen Leben bieten wollte.
Der Gefahr nostalgischer Verklärung ist er sich dabei bewusst. Er widmet sich dem Gestern deshalb nicht als Gestriger, sondern mit feinem Humor und dem Habitus eines durchaus gegenwartskompetenten Mannes, der seinen Weihnachtsbaum von oben mittels einer Zimmer-Drohne fotografiert und sich vor zehn Jahren in New York ein iPhone der allerersten Generation besorgte. Kultur geht zu allen Zeiten auf und unter, und vieles, was vor 50 Jahren angesagt oder stilbildend war, lässt sich heute bloß noch belächeln. Etwa die senfgelben Teppichböden oder die Anstrengungen des Partnertauschs in Zeiten der sexuellen Revolution.
Erzählend, aber nicht belehrend
Der Ton ist geschliffen und pointiert. Vor allem ist er erzählend, nicht belehrend. Szenen der Kindheit, Erfahrungen auf Reisen, Begegnungen mit Philosophen, Schriftstellern und Musikern, die Prägungen durch Karl May oder Hitchcock, Anekdotisches über Emile Cioran, Telefonate mit Glenn Gould und Hans Blumenberg – all das trägt bei zum Reiz dieser Feuilletons. Zusammen ergeben sie ein schönes, unaufdringliches Buch, das die Leser animiert, der Furie des Verschwindens bei ihrer leisen Vernichtung des Gewohnten genauer zuzusehen.