Martin Mulsow: „Überreichweiten“

Munterer Handel auf den globalen Ideenmärkten

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Martin Mulsow: „Überreichweiten. Perspektiven einer globalen Ideengeschichte“. Das Cover zeigt einen Globus, ein Buch und andere Wissensgegenstände.
© Suhrkamp

Martin Mulsow

Überreichweiten. Perspektiven einer globalen Ideengeschichte Suhrkamp Verlag, Berlin 2022

718 Seiten

42,00 Euro

Von Eike Gebhardt |
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Der Ideenhistoriker Martin Mulsow hat dem internationalen Wissenstransfer in der frühen Neuzeit ein äußerst spannendes und gelehrtes Buch gewidmet. „Überreichweiten“ liest sich streckenweise wie ein Abenteuerroman.
Der Trend zur Globalgeschichte hat längst die lange vorherrschende Nationalgeschichte abgelöst. Anthropologische Großsysteme wollen die gesamte Evolution umspannen, die ganze Menschheitsgeschichte passiert Revue im Fokus von Themen wie Gewalt, Herrschaft, Siedlungsmuster, Wissensformen oder Religion.
Namen wie Harari, Pinker, Graeber und Wengrow sind Partygespräch - und nun auch Martin Mulsow mit seiner hochspannenden Ideengeschichte, die zwischen Krimi, Abenteuerroman und Comedy of Errors pendelt, immer in nüchterner, klug abwägender Perspektivierung und mit schier erdrückendem Hintergrundwissen.

Handel mit Gewürzen, Waffen und Ideen

Allerdings konzentriert sich Mulsow weise auf die Frühaufklärung, wenn auch mit zahllosen erhellenden historischen Rückblenden. Auf den schon früh globalisierten Ideenmärkten wird mit buchstäblich allem gehandelt, von konkurrierenden religiösen Deutungsmustern über Bau- und Kriegskunst bis zu Medizin, Alchemie und Sprachstudien.
Der Titel des Buches deutet schon auf das Problem solcher Handelsbeziehungen hin: anders als beim Transfer von Gewürzen, Waffen oder Werkzeugen entstehen beim Ideen-Transfer Verständnis- und Übersetzungsprobleme – vor allem natürlich im Bereich der religiösen Weltbilder.
Beispielhaft eröffnet die Figur des Hermes Trismegistos den Text, der in ganz verschiedenen Kulturen als Gewährsmann kosmologischer Ursprungslehren auftaucht, obwohl er vermutlich nie existierte. Aber er funktionierte als eine Art Scharnier zwischen mehreren antiken Kulturen – Juden, Persern, Arabern, Indern und Chinesen –, die in ihm eine Art gemeinsamer Plattform fanden, auf der sie unterschiedliche Deutungen seiner Schriften zum kulturübergreifenden Diskurs-Forum machten.
Die Übersetzungsfehler, Missverständnisse, bewussten Umdeutungen und eigenmächtigen Ergänzungen in den erstaunlich weitreichenden globalen „Lieferketten“ sind selber wiederum eigenständige Entwicklungsstränge der Ideengeschichte geworden, die Mulsow mit stupendem Wissen akribisch verfolgt. 

Zivilisationen als sich kreuzende Galaxien

Ein Leitmotiv durchzieht das ganze Werk. Statt vom Kampf der Kulturen zu reden, der sie als feste Einheiten „wie Planeten“ begreift, fragt Mulsow: „Sind Zivilisationen nicht eher wie Galaxien zu denken, die einander durchdringen, wenn sie sich kreuzen?“
Also auch kompatible Elemente bieten? So ähneln sich zum Beispiel Zeitbewusstsein und Schöpfungsgeschichte der adamitischen Religionen. Aber hatte nicht Paulus geschrieben, die Sünde sei in der Welt gewesen, ehe Gottes Gesetz und Adam, der es übertrat, überhaupt existierten? Hieße das nicht, dass es Menschen vor Adam gegeben haben muss?
Tatsächlich gab es schon im Islam im 9. und 10. Jahrhundert eine Debatte über sogenannte Präadamiten – die sich in Europa seit Mitte des 17. Jahrhunderts wiederholte. Welches Konfliktpotential solche Annahmen für die These von der Erbsünde (angeblich doch Adams Ungehorsam) bargen, lässt sich leicht vorstellen.
Dass die Alchemie der Kampfdrogen reichlich Interesse am Ideentransfer hatte, erklärt sich von selbst. Aber auch das Problem der Häresie lässt sich international betrachten: Dass christliche und islamische Ketzer oft spiegelbildlich orthodoxe Positionen der Gegenseite vertraten und sich so ineinander verbissen, ist so spannend wie ein Beziehungsstreit – wie überhaupt die Bruchlinien und Abweichler über die Kontinente hinweg oft die eigentlich befruchtende Rolle spielten.
All das mag aus heutiger Sicht wie religiöse Haarspaltereien erscheinen – aber mit einer Leidenschaft und Raffinesse ausgefochten, dass sie sich in Mulsows Rückblick oft wie ein Abenteuerroman lesen.
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