Martin Scherer: „Hingabe. Versuch über die Verschwendung“

Schwach werden als Stärke

06:30 Minuten
Buchcover "Hingabe" von Martin Scherer
Hingabe ist immer eine Form der Selbstvergessenheit und der Verschwendung, zeigt Martin Scherer in seinem Buch. © zu Klampen Verlag / Combo: Deutschlandradio
Von Catherine Newmark |
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Hingabe klingt vielleicht altmodisch. Aber die Idee einer bedingungslosen Selbstverausgabung ist gerade in unserer kapitalistischen, durchrationalisierten Welt interessant, wie Martin Scherer in seinem eleganten Essay zeigt.
Was ist Hingabe? Und muss ich das haben? Dass das Wort möglicherweise altmodisch klingt, gibt Martin Scherer gleich auf der ersten Seite seines Essays zu. Ohne Zweifel: der Assoziationshorizont des Wortes reicht von religiöser Ekstase und Aufopferung bis zu schwülstigen Liebesfantasien, die man zuletzt auf der Leinwand ungefähr in den 1970ern gesehen hat.
Aber aktuelle gesellschaftliche oder kulturelle Phänomene, die mit dem Wort "Hingabe" gut beschrieben wären, müsste man länger suchen. Optimieren wir etwa hingebungsvoll unsere Körper? Sind unsere politischen Kämpfe von Hingabe geprägt? Idealisieren wir uns selbst noch als hingebungsvolle Mütter, Väter, Ehepartner? Eher nicht.
Hingabe ist, wie der studierte Philosoph, langjährige Journalist und heutige Verlagsleiter Martin Scherer überzeugend herausarbeitet, immer eine Form der Selbstvergessenheit und vor allem auch der Verschwendung, die jeder politischen und soziologischen Rationalität entgegensteht.
Sie interessiert sich nicht für die Gegengabe, sie ist eine Selbstverausgabung, die gerade in Zeiten von Ich-Verwertung und zielorientierter Selbstdarstellung, von durchkapitalisierten Lebens- und Liebesverhältnissen, wie sie zum Beispiel die Soziologin Eva Illouz eingängig beschrieben hat, wie eine starke Gegenposition wirkt:
"Mit der Hingabe nimmt sich der Mensch eine Auszeit vom ökonomischen Bewusstsein – und die Welt kann sich, für Augenblicke wenigstens, von ihrer Verdinglichung erholen", schreibt Scherer. Hingabe ist nicht nur der Gegenbegriff zu den Bewertungskategorien der Dating-App und zur pfleglich geführten Beziehung, sondern auch zur egofixierten Achtsamkeitskultur.

Die singuläre Fokussierung auf etwas oder jemanden

Beispiele für diese schöne Selbstverschwendung findet Scherer in der Literatur, aber auch in der Geschichte. Die erotische Liebe ist ein Bereich, wo sich Hingabe gut nachweisen lässt (etwa in der leidenschaftlichen, auf kein Gegengefühl pochenden Liebe, die Ninon de Lenclos im 17. Jahrhundert in Briefen beschreibt), aber keineswegs der einzige.
Religion, Kunst oder obsessives, dilettantisches Sammeln können ebenso hingebungsvoll sein, ja letztlich lässt sich die Anti-Rationalität der singulären Fokussierung auf jemanden oder etwas in allen Lebensbereichen nachweisen.
Scherers hinreißender kleiner Essay ist keine umfassende kulturhistorische Beschreibung, eher eine elegant und stilistisch brillant hingetupfte Erinnerung daran, dass es andere mögliche Lebensentscheidungen gibt als die vernünftigen. Dass der Gesamtzusammenhang unserer entzauberten Welt uns zu keiner Zeit daran hindern sollte oder auch könnte, für etwas schwach zu werden.
Daraus folgt keine Revolution und kein Systemumsturz, es ist allenfalls eine kleine Form des Protests. Aber eine schöne.

Martin Scherer: Hingabe. Versuch über die Verschwendung
zu Klampen Verlag, Springe 2021
104 Seiten, 14 Euro

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