Martin Walser: Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte
Rowohlt Verlag 2018
107 Seiten, 18 Euro
Anarchische Altmänner-Erotik
Der Ich-Erzähler in Martin Walsers neuem Buch pflegt einen unbekümmerten Sexismus. Ein Mann zwischen Ehefrau und Geliebter schreibt Briefe an eine unbekannte, wohl nur erfundene Empfängerin.
In seinem neuen Buch "Gar alles" stimmt Martin Walser (s)ein altes Lied an: "Ich zwischen zweien. Die Eine seit langem. Die Andere noch nicht so lange." Ehefrau Gerda ein "Sternbild", die Geliebte Silke ein "Blütenschwall", die eine edel, die andere anständig – die Situation ist schwierig für alle, doch am schwierigsten für den Ich-Erzähler, der Tag und Nacht im Streit liegt "mit den Umständen, zu denen ich es habe kommen lassen".
Welcher Mann wünsch sich das nicht?
So schreibt er es in Briefen an eine unbekannte Geliebte, das wäre dann die dritte, "eine Andere, die nicht verlangt, dass ich mich von der Einen trenne" – welcher Mann wünschte sich das nicht! Dass die unbekannte Geliebte eine Erfindung ist, verheimlicht der Briefschreiber weder sich noch uns, im Gegenteil: Er kann sich dieser Geliebten nur offenbaren, weil sie nichts von ihm weiß. Ihr kann er erzählen, was er will, er ergeht sich in Beteuerungen und Selbstoffenbarungen und grüßt dabei mit wechselnden Identitäten: "Ihr Ohnmächtiger", "Ihr Was-Sie-wollen" oder schlicht "Ihr Absender", selten auch "Ihr Justus Mall" oder "Ihr JM". Das ist nicht sein echter Name. Auf der Visitenkarte steht "Philosoph", obwohl er eigentlich Jurist ist, doch davon später, so vertröstet er die Geliebte und uns Leser.
Die Briefe in diesem "Roman", wie es auf dem Umschlag trotz allem heißt, sind Gefäße für alle möglichen literarischen Formen. Einmal tischt uns der Briefschreiber Aphorismen auf, dann erzählt er von einem Alptraum, in dem er sich selbst aufisst und im Traum überlegt, ob der Mund am Ende übrigbleibe oder sich selbst verschlinge. Zwischendurch rasante Erzählungen in bestem Walser-Sound, angereichert mit Perspektivwechsel, denn ab und zu erlaubt sich der Ich-Erzähler, "ins 'er' auszuwandern".
Steile Brüste auf der Straße
Der Ich-Erzähler pflegt einen unbekümmerten Sexismus: Acht Mal wiederholt er, auf knapp anderthalb Seiten, die "steilen Brüste", die ihm vorhin auf der Straße begegnet sind, und die Nachbarin, die ihm an seine Thuja-Hecken will, nennt er, im Gespräch mit Ehefrau Greta und offenbar mit ihrem Einverständnis, stets nur "die trockene Scheide". Der Seitenhieb, den sich Martin Walser gegen Ende dieses Büchleins auf die Me-Too-Debatte erlaubt, ist leider sehr viel weniger aufregend als die anarchische Altmänner-Erotik, zu der sich der Ich-Erzähler in den anderen Teilen des Buchs hinreißen lässt.
In neun komplett vorhersehbaren Seiten erfahren wir, was Gottfried Schall seine Beamtenkarriere gekostet hat, weshalb er nun Justus Mall heißt. Ein "Grapscher" sei er, von "Altersgeilheit" getrieben, so stand es später in der Zeitung, was ihn zur Aussage hinreißt, ihm ging die "immer drastischere Verurteilung meiner Empfindungen" auf die Nerven.
Die Dialektik von Lüge und Wahrheit
Eine Botschaft seines Autors Martin Walser an uns alle?
Schwer zu sagen, denn die Dialektik von Lüge und Wahrheit durchzieht diese Briefe. "Die Lüge als Mutter der Wahrheit", so lautet der Titel eines Buchs, das der Ich-Erzähler geschrieben hat und den er später umdreht: "Die Wahrheit als Mutter der Lüge". Man weiß bei diesem schmalen Bändchen nie, wo die Ironie aufhört und wo man dem Autor auf den Leim geht.
Letztlich handelt es sich bei diesen Briefen um Selbstgespräche, so wie es bereits in Martin Walsers letztem Buch mit dem Titel "Statt etwas oder Der letzte Rank" der Fall war. Dort meditierte der Ich-Erzähler vor "einer leeren, musterlosen Wand", hier dient die erfundene Geliebte als Projektionsfläche. Am Ende heißt es: "Ich wende mich nur noch an mich."
Und wir schauen zu – mit Verwunderung, Kopfschütteln, Amüsement.