Martin Walser: "Spätdienst. Bekenntnis und Stimmung."
Mit Arabesken von Alissa Walser
Rowohlt Verlag, Reinbek 2018
206 Seiten, 20 Euro
Mit dem Leben um die Wette schreiben
Martin Walser ist im hohen Alter produktiver denn je. Literarische Kriterien spielen da nur noch eine untergeordnete Rolle. Sein neues Buch versammelt Notate zwischen Wut und Verzweiflung – und das Feuilleton ist immer noch Walsers Lieblingsgegner.
Martin Walser schreibt und schreibt. Man kommt in den vergangenen Jahren gar nicht mehr nach, die Bücher aufzuzählen, die er in kürzestmöglichen Abständen veröffentlicht hat: Romane sind darunter, Dramolette, Gedichte. Aber letztlich handelt es sich doch nur um einziges Genre, nämlich um die spezifische Altersprosa dieses Autors. Es geht um die Parallelisierung von Leben und Schreiben. Im Schreibprozess wird alles festgehalten, was am Leben spürbar ist, ja, das Schreiben scheint oft an die Stelle dessen zu treten, was einmal ein direktes Erlebnis war.
Das neueste Werk des mittlerweile 91-Jährigen heißt "Spätdienst". Es sind kurze Notate, ohne Aphorismen zu sein. Sie changieren zwischen Wut und Verzweiflung, zwischen Erinnerungen an Sekunden des Glücks und dem Erhaschen von Augenblicksgefühlen: Tagebuchnotizen, die direkt dem jeweiligen Moment entspringen, aber meistens diesen Moment auch verdichten möchten. Dennoch scheinen literarische Kriterien beim Lesen dieser Kürzestprosa nicht zu greifen. Es geht eher um etwas Biografisch-Psychologisches: Der Autor schreibt mit dem Leben um die Wette, und man schaut ihm dabei zu.
Aufreiben am Feuilleton
Dabei ist nichts abgeklärt. Doch welche Energie hier genau agiert, gerade weil sie so unbändig wirkt, lässt sich schwer beschreiben. Ein bisschen etwas davon verrät auf jeden Fall die Widmung: "Für Gegner: ein gefundenes Fressen. Für meine Leser: vielleicht ein Ausflug ins Vertraute". Immer mehr drängt sich der Eindruck auf, dass Walser seine "Gegner" (es sind seit jeher Journalisten, die gelegentlich sein Schreiben kritisieren) richtiggehend braucht. Und er gibt ihnen auch bereitwillig Futter: "Ostern, schönes Feuilleton / aus Blut und Blüte, / du, das feiern wir! / Statt Golgatha, Verdun und Auschwitz / lassen wir diesmal / holzschnitthaft Hué herkommen und sagen keinem hierzulande nach, / dass er diesen Krieg andauernd billigt (…)".
Walser reibt sich am "Feuilleton" auf, an politischen Meinungen und öffentlichen Übereinkünften, und er weiß dabei natürlich, dass es als Provokation aufgefasst wird, "Verdun" und "Auschwitz" in einem Atemzug zu nennen – für ihn sind das vor allem Schlagworte aus der Geschichte, die das Entsetzen jeweils durch den Charakter des Schlagworts verbergen. Trotz, Einsamkeit, Lebensgier, das Nichtverstandenwerden des Dichters: Das ergibt alles ein charakteristisches Amalgam.
Mal schonungslos, mal altersmilde
Im Mittelpunkt steht die Schonungslosigkeit, die der Autor ausstellt. Manchmal scheint es auch so, dass er schonungslos mit sich selber ist. Er zeigt sich mal offen und verletzlich, mal aggressiv, und im nächsten Satz kann er dann auch wieder sehr poetisch sein, im milden Duktus des Altersrückblicks: "Dass unter dem Milchstrahl der Kübel anfängt zu singen, das haben wir alle gehört".
Dennoch liegt in diesem Satz, wenn man ihn zweimal liest, auch ein ungeheurer Vorwurf. Doch an wen? Es sind wahrscheinlich die Weltläufte an sich. Wer Martin Walser immer schon gelesen hat, wird auch dieses Buch lesen.