Marx für Einsteiger
"Das Kapital" von Karl Marx zählt zu den Standardwerken der politischen Ökonomie. Doch die Theorien über Mehrwert, Ware oder Austauschprozess erweisen sich als sperrig. Zum 125. Todestag des großen Denkers hat Francis Wheen eine leicht lesbare Geschichte des Kapitals vorgelegt und zeigt den Autor von einer ganz anderen Seite: als Polemiker, Brachial-Rhetoriker und Stilisten.
"Bücher, die die Welt veränderten" heißt eine neue, zehnbändige Reihe im Deutschen Taschenbuch Verlag, in der epochale Werke von der Bibel bis zu Darwins "Entstehung der Arten" vorgestellt werden.
Über Karl Marx’ einflussreiches Hauptwerk "Das Kapital" schreibt der britische Journalist Francis Wheen, der 1999 mit einer Marx-Biografie publizistischen Erfolg hatte. Sein dtv-Bändchen von 126 Seiten zeichnet sich durch die ideologieferne Darstellung des zumeist bedrückenden Lebens von Karl Marx und der monomanischen Arbeit am "Kapital" aus, dessen erster Band im Londoner Exil mit Jahrzehnten Verspätung fertig wurde – alles Weitere blieb unvollendet.
Wheen interessiert sich, abweichend von der lange Zeit gängigen Wahrnehmung, für Marx als "kreativen Künstler" und "Poeten der Dialektik". Tiefere wirtschaftstheoretische Analysen des "Kapital" fehlen – was bei einer populären Einführung akzeptabel ist.
Kommunistenhasser einerseits, orthodoxe Sozialisten andererseits dürften sich von Francis Wheens lässig-leichtem Umgang mit dem weltweit verehrten, verteufelten und ikonisierten Karl Marx bzw. dessen "Kapital" provoziert fühlen. Wheen zählt den Anwaltssohn aus Trier, der schon als junger Journalist dank "berserkerhafte[r] Angriffslust" Herrscherpersönlichkeiten wie Zar Nikolaus I. auf die Palme bringen konnte, schlicht zu den faszinierenden Geistesriesen der Neuzeit und behauptet:
"Das 'Kapital’ ist so dissonant wie die Musik von Arnold Schönberg und beklemmend wie die Prosa von Franz Kafka."
Wer so schreibt, hat mit historischen Aufrechnungen und den Kampfzonen politischer Agitation nichts mehr im Sinn. Wheen leugnet keineswegs die revolutionäre und blutige Sprengkraft, die das "Kapital" mit anderen Marx-Schriften entwickelt hat, aber sein Hauptaugenmerk gilt dem Autor als brillantem Kopf und enormem Kerl.
Im ersten Kapitel – "Die Reifezeit" – zeigt Wheen, dass der unermüdliche Autodidakt Marx frühzeitig Homer und Shakespeare studierte, selbst literarische Werke verfasste und erst über die Beschäftigung mit Hegels idealistischer Philosophie zur berühmten "ökonomischen Scheiße" kam, wie er den wichtigsten Stoff seines Lebens gegenüber Friedrich Engels bezeichnete.
Überhaupt gebärdete sich Marx gern als Polemiker, Brachial-Rhetoriker und Stilist. Das imponiert Wheen so sehr, dass er den Bleiwüsten-Charakter und statistischen Furor größerer Teile des "Kapital" für verzeihlich hält. Andererseits unterhält er die Leser mit einem Best-of von Marx-Zitaten, darunter viele schauerromantische:
"Das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampyrmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit…"
Im zweiten Kapitel – "Die Geburt" – skizziert Wheen, wie Karl Marx vor dem Hintergrund des ausufernden Industriekapitalismus die klassische Nationalökonomie von Adam Smith und David Ricardo verwirft und seine Themen – "Ware", "Austauschprozess", "Mehrwert" et cetera – im Licht des historischen Materialismus bearbeitet.
Wheen hält das "Kapital" nicht für sakrosankt, er weist Denkfehler nach und erlaubt sich Spott, aber letztlich beugt er sich vor dem großen Wurf. Er konzediert, dass das Buch "von Paradoxa und Spekulationen", von "abstrusen Erklärungen und tollen Einfällen" strotzt, um sofort die Gegen- und Verteidigungsfrage zu stellen:
"Wie anders sollte Marx der rätselhaften und nicht selten chaotischen Logik des Kapitalismus gerecht werden?"
Im Schlusskapitel über "Das Fortleben" des "Kapital" erläutert Wheen Marx’ Einfluss auf die deutsche Sozialdemokratie, befasst sich mit der Rezeption durch Lenin, die dazu führte, dass die offizielle Weltanschauung der Sowjetunion Marxismus-Leninismus genannt wurde, und wagt am Ende die Prognose:
"Weit davon entfernt, unter den Trümmern der Berliner Mauer begraben zu sein, tritt Marx vielleicht erst jetzt in seiner wahren Bedeutung ans Licht. Er könnte durchaus noch zum einflussreichsten Denker des 21. Jahrhunderts werden."
Das sei dahingestellt. Wheens Einführung in "Das Kapital" ist äußerst locker konsumierbar und führt in weiten Teilen vor allem in Marx’ Leben ein. Versteht man die 126 Seiten als Appetizer, dürfte die Charakterisierung von Marx als famosem Künstlergenie eine gute Idee sein. Was unerwähnt bleibt, ist naturgemäß Legion.
Symptomatisch ist der Band, insofern er Marx nicht mit den Sünden des Marxismus belastet und sich von dem unerträglichen Ernst vergangener Marx-Lektüren – Weltrevolution! Neuerschaffung des Menschen! – entfernt hält. Wheen erlaubt sich, Marx und "Das Kapital" spielerisch zu lesen. Seit 1989 ist das möglich und plausibel.
Rezensiert von Arno Orzessek
Francis Wheen: Karl Marx - Das Kapital
aus dem Englischen von Kurt Neff
Deutscher Taschenbuch Verlag 2008
126 Seiten, 9,90 Euro
Über Karl Marx’ einflussreiches Hauptwerk "Das Kapital" schreibt der britische Journalist Francis Wheen, der 1999 mit einer Marx-Biografie publizistischen Erfolg hatte. Sein dtv-Bändchen von 126 Seiten zeichnet sich durch die ideologieferne Darstellung des zumeist bedrückenden Lebens von Karl Marx und der monomanischen Arbeit am "Kapital" aus, dessen erster Band im Londoner Exil mit Jahrzehnten Verspätung fertig wurde – alles Weitere blieb unvollendet.
Wheen interessiert sich, abweichend von der lange Zeit gängigen Wahrnehmung, für Marx als "kreativen Künstler" und "Poeten der Dialektik". Tiefere wirtschaftstheoretische Analysen des "Kapital" fehlen – was bei einer populären Einführung akzeptabel ist.
Kommunistenhasser einerseits, orthodoxe Sozialisten andererseits dürften sich von Francis Wheens lässig-leichtem Umgang mit dem weltweit verehrten, verteufelten und ikonisierten Karl Marx bzw. dessen "Kapital" provoziert fühlen. Wheen zählt den Anwaltssohn aus Trier, der schon als junger Journalist dank "berserkerhafte[r] Angriffslust" Herrscherpersönlichkeiten wie Zar Nikolaus I. auf die Palme bringen konnte, schlicht zu den faszinierenden Geistesriesen der Neuzeit und behauptet:
"Das 'Kapital’ ist so dissonant wie die Musik von Arnold Schönberg und beklemmend wie die Prosa von Franz Kafka."
Wer so schreibt, hat mit historischen Aufrechnungen und den Kampfzonen politischer Agitation nichts mehr im Sinn. Wheen leugnet keineswegs die revolutionäre und blutige Sprengkraft, die das "Kapital" mit anderen Marx-Schriften entwickelt hat, aber sein Hauptaugenmerk gilt dem Autor als brillantem Kopf und enormem Kerl.
Im ersten Kapitel – "Die Reifezeit" – zeigt Wheen, dass der unermüdliche Autodidakt Marx frühzeitig Homer und Shakespeare studierte, selbst literarische Werke verfasste und erst über die Beschäftigung mit Hegels idealistischer Philosophie zur berühmten "ökonomischen Scheiße" kam, wie er den wichtigsten Stoff seines Lebens gegenüber Friedrich Engels bezeichnete.
Überhaupt gebärdete sich Marx gern als Polemiker, Brachial-Rhetoriker und Stilist. Das imponiert Wheen so sehr, dass er den Bleiwüsten-Charakter und statistischen Furor größerer Teile des "Kapital" für verzeihlich hält. Andererseits unterhält er die Leser mit einem Best-of von Marx-Zitaten, darunter viele schauerromantische:
"Das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampyrmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit…"
Im zweiten Kapitel – "Die Geburt" – skizziert Wheen, wie Karl Marx vor dem Hintergrund des ausufernden Industriekapitalismus die klassische Nationalökonomie von Adam Smith und David Ricardo verwirft und seine Themen – "Ware", "Austauschprozess", "Mehrwert" et cetera – im Licht des historischen Materialismus bearbeitet.
Wheen hält das "Kapital" nicht für sakrosankt, er weist Denkfehler nach und erlaubt sich Spott, aber letztlich beugt er sich vor dem großen Wurf. Er konzediert, dass das Buch "von Paradoxa und Spekulationen", von "abstrusen Erklärungen und tollen Einfällen" strotzt, um sofort die Gegen- und Verteidigungsfrage zu stellen:
"Wie anders sollte Marx der rätselhaften und nicht selten chaotischen Logik des Kapitalismus gerecht werden?"
Im Schlusskapitel über "Das Fortleben" des "Kapital" erläutert Wheen Marx’ Einfluss auf die deutsche Sozialdemokratie, befasst sich mit der Rezeption durch Lenin, die dazu führte, dass die offizielle Weltanschauung der Sowjetunion Marxismus-Leninismus genannt wurde, und wagt am Ende die Prognose:
"Weit davon entfernt, unter den Trümmern der Berliner Mauer begraben zu sein, tritt Marx vielleicht erst jetzt in seiner wahren Bedeutung ans Licht. Er könnte durchaus noch zum einflussreichsten Denker des 21. Jahrhunderts werden."
Das sei dahingestellt. Wheens Einführung in "Das Kapital" ist äußerst locker konsumierbar und führt in weiten Teilen vor allem in Marx’ Leben ein. Versteht man die 126 Seiten als Appetizer, dürfte die Charakterisierung von Marx als famosem Künstlergenie eine gute Idee sein. Was unerwähnt bleibt, ist naturgemäß Legion.
Symptomatisch ist der Band, insofern er Marx nicht mit den Sünden des Marxismus belastet und sich von dem unerträglichen Ernst vergangener Marx-Lektüren – Weltrevolution! Neuerschaffung des Menschen! – entfernt hält. Wheen erlaubt sich, Marx und "Das Kapital" spielerisch zu lesen. Seit 1989 ist das möglich und plausibel.
Rezensiert von Arno Orzessek
Francis Wheen: Karl Marx - Das Kapital
aus dem Englischen von Kurt Neff
Deutscher Taschenbuch Verlag 2008
126 Seiten, 9,90 Euro