Marxismus

Eine verpasste intellektuelle Chance

Walter Benjamin
Walter Benjamin (1892–1940) war Philosoph, Literaturkritiker und Übersetzer von Balzac, Baudelaire und Marcel Proust. © dpa / picture alliance / Heinzelmann
Von Michael Opitz |
In der BRD galt er nach dem Krieg als einer der einflussreichsten Denker seiner Generation, in der DDR war Walter Benjamins Werk mit den orthodoxen Marxismus-Vorstellungen nicht kompatibel. Dabei hätte er eigentlich kein Unbekannter bleiben müssen.
Die DDR tat sich schwer mit dem Erbe des 1892 geborenen Walter Benjamin, der sich auf der Flucht vor den Nazis 1940 an der spanischen Grenze in Portbou das Leben nahm. Befreundet war Benjamin mit Bertolt Brecht und Ernst Bloch, die sein Interesse für den Marxismus mit Wohlwollen zur Kenntnis nahmen. Hingegen musste er sich wegen dieses Interesses heftige Vorwürfe von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem anhören, die ebenfalls zum Kreis seiner engsten Vertrauten gehörten.
Benjamin war mit den orthodoxen Marxismusvorstellungen in der DDR nicht kompatibel. Abgesehen von den marxistischen Säulenheiligen, Marx, Engels und Lenin, stimmte der späte Lukacs eher mit den Vorstellungen der DDR-Offiziellen überein, weshalb die Texte des aus Moskau zurückgekehrten Emigranten das ästhetische Denken in der marxistischen Kunst- und Kulturwissenschaft lange Zeit bestimmten.
Einer der ersten Drucke erscheint im Osten
Dabei gab es in der unmittelbaren Nachkriegszeit durchaus Hoffnung, dass Benjamin in der DDR kein Unbekannter bleiben würde. Erdmut Wizisla, Leiter des Walter-Benjamin-Archivs der Akademie der Künste:
"Das Interessante ist, dass der erste Druck – vielleicht nicht der allererste Nachkriegsdruck, aber einer der ganz frühen Drucke – im Heft vier von 'Sinn und Form' im ersten Jahrgang 1949, im Osten erschienen ist. Da gab es die DDR sehr wahrscheinlich noch nicht."
Neben Benjamins Aufsatz "Über einige Motive bei Baudelaire" erschien in diesem "Sinn und Form"-Heft auch ein Kapitel aus Horkheimer/Adornos "Dialektik der Aufklärung". Aber nach dem verheißungsvollen Beginn tat sich lange Jahre nichts. Denn auch die Absicht des Ostberliner Aufbau Verlages, 1955 eine Auswahl benjaminscher Schriften publizieren zu wollen, wurde nicht verwirklicht. Abgelehnt wurde Ende der Sechzigerjahre auch ein Angebot des Suhrkamp Verlages, den Band "Versuche über Brecht" als Lizenzausgabe in der DDR herauszugeben. Dieser Band enthielt auch die in Svendborg zwischen Brecht und Benjamin geführten Gespräche, die für den Gutachter ein entscheidender Grund waren, das Angebot abzulehnen:
"Zahlreiche der in diesen Gesprächen nur angerissenen Probleme, vor die sich die progressiven deutschen Schriftsteller in den ersten Exiljahren gestellt sahen – man denke an bestimmte Erscheinungen in Politik und Kulturpolitik der Sowjetunion im Zeichen des wachsenden Personenkults –, würden jedoch hier und heute einen sehr ausführlichen historischen und ideologischen Kommentar verlangen, der unsere Ausgabe zu stark belastete. Die marxistische Literaturwissenschaft hat diese Texte keineswegs zu scheuen; von ihrer Veröffentlichung in extenso in einer Ausgabe des Aufbau-Verlags soll jedoch abgeraten werden."
Während in den Fünfzigerjahren noch die Forderung erhoben wurde, für Benjamin müsse Platz im "Freihafen der Philosophie" sein – so hat es Gerhard Seidel in seinem Aufsatz gleichen Titels formuliert –, zeigt sich in den folgenden Jahren immer deutlicher, dass Benjamin in diesem Hafen nicht vor Anker gehen dürfe.
Noch 1987 ließ der ansonsten mit Kritik am DDR-Dogmatismus nie sparende Wolfgang Harich wissen, dass es eine Verirrung der aller ärgsten Art sei, würde man Benjamin zur theoretischen Begründung des sozialistischen Realismus heranziehen. Von da aus – so Harich – wäre es nur ein kleiner Schritt bis zu Nietzsche. In Bezug auf Nietzsche aber hatte Georg Lukacs ganze Arbeit geleistet, der Nietzsche als einen Vordenker des Faschismus sah. Es blieb bei den eher sporadischen Ansätzen – weder in der Philosophie noch in der Literatur- und Kulturwissenschaft spielte Benjamin eine entscheidende Rolle.
Es bleibt bei verlegerischen Ansätzen
Wizisla: "Ich glaube, die Verlage haben sich bemüht, und nur mäßigen Erfolg gehabt. Die etablierte Wissenschaft, mit wenigen Ausnahmen – dazu gehört Wolfgang Heise – ist das nicht so berückend. Das Entscheidende passiert in der Kunst, in der Literatur und auf dem Theater, wo Benjamin ganz selbstverständlich präsent ist, wo Alexander Lang 'Die Trilogie der Leidenschaften' – im Programmheft die These vom Angelus Novus – abdruckt, zu einem Zeitpunkt, wo die in der DDR noch gar nicht gedruckt war. Wo Heiner Müller Ende der Fünfzigerjahre das Gedicht schreibt 'Glückloser Engel' und damit in der literarischen Rezeption diesen Autor in ein Denken holt, wo er ungeheuer präsent ist. Müller schlägt auch den Bogen zu Brecht, zu Dessau, die ihren Benjamin aus erster Hand kannten und damit ist er in der DDR da. Das geht dann bis zur nächsten Generation: Steffen Mensching, Hans-Eckardt Wenzel – ganz wichtig Volker Braun mit seinem Gedicht 'Benjamin in den Pyrenäen'; bei Christoph Hein ist er da, ganz selbstverständlich und eben nie das man da den Stempel DDR darauf setzen würde im Sinne von: Naja, es musste alles abgesichert sein und Wagnisse waren nicht möglich. Das Komische ist ja eigentlich, dass Benjamin möglich gewesen wäre."
Denn auch Ernst Bloch war ja möglich gewesen, dessen Hauptwerk "Das Prinzip Hoffnung" – wenn auch erst nach Schwierigkeiten – in der DDR erscheinen konnte. Ernst Bloch aber konnte, anders als Benjamin, in den Ostberliner Verlagen selbst vorstellig werden. Ungünstig für die Benjamin-Rezeption in der DDR war auch, dass nach Brechts frühem Tod und Blochs Weggang aus der DDR, einflussreiche Fürsprecher fehlten. Die aber hätte es gebraucht, um Benjamin in der DDR stärker öffentlich zu machen. Von Nachteil war weiterhin, dass ein Teil des Benjamin-Nachlasses in Frankfurt am Main lag, wo Adorno über ihn wachte, und sich der andere Teil in der DDR befand, die ihn lange Jahre unter Verschluss hielt. Als sich im Kalten Krieg die Fronten zwischen Ost und West verhärteten, hatte das auch Auswirkungen auf die Publikation benjaminscher Texte in Ost und West. Die Ausgabe von Benjamins "Gesammelten Schriften" erschien trotzdem im Suhrkamp Verlag, in der DDR blieb es bei verlegerischen Ansätzen.
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