Mary Berg: "Wann wird diese Hölle enden? Das Tagebuch der Mary Berg"
Orell Füssli, September 2019
356 Seiten, 23 Euro
"Kurz gesagt, es ist verboten zu leben"
06:44 Minuten
Erst 74 Jahre nach der englischen Edition erscheinen Mary Bergs Tagebücher nun auf deutsch. 15 Jahre ist die Polin alt, als die Deutschen 1939 ihre Familie in das Warschauer Ghetto zwingen. 1943 konnte sie als eine der wenigen entkommen.
Auch wer sich schon viel mit der Schoah beschäftigt hat, wird dieses Buch, einmal angefangen, nicht mehr aus der Hand legen können: Eine polnische Anne-Frank-Geschichte, aber mit einem glücklichen Ende für sie und die Familie. Mary Bergs Tagebücher beginnen nach dem deutschen Überfall auf Polen.
"10. Oktober 1939. Heute werde ich fünfzehn. Ich fühle mich sehr alt und einsam. Alle haben Angst, nach draußen zu gehen. Die Deutschen sind hier."
Not führt nach Warschau
Die deutschen Invasoren haben den Widerstand der Polen innerhalb von ein paar Wochen niedergeschlagen. Nachdem die Nationalsozialisten das Land besetzt haben, beginnen sie mit Pogromen gegen die Juden. Panisch fliehen die Bergs aus Lodz, aber in Warschau ist es nur vermeintlich sicher.
Mary Berg beschreibt, wie der jüdische Stadtteil in Warschau schleichend zur Todesfalle wird. Zunächst sind es nur Gesetze und Verordnungen, das Verbot, bestimmte Straßen zu betreten oder Verkehrsmittel zu nutzen. Dann werden Juden aus ganz Warschau unter Androhung des Todes gezwungen, ins Ghetto zu ziehen.
Die Mutter von Mary, amerikanische Staatsbürgerin, bemüht sich vergeblich um Ausreisepapiere für die Familie, das amerikanische Konsulat in Warschau wurde von den Nationalsozialsten geschlossen. 1940 wird das Ghetto ummauert und vom Leben Warschaus abgeschnitten.
"Trotz der diversen Verbote werden viele Dinge im Ghetto so wie auch auf der arischen Seite gemacht, die bei Todesstrafe untersagt sind. Genau genommen ist alles verboten. Es ist verboten, eine Zeitung zu drucken, die nicht vorher von den Nazis zensiert wurde, Heimatlieder zu singen, Gottesdienste oder Schulen zu besuchen, öffentliche Parks zu betreten, mit dem Zug zu fahren, Radios, Telefone oder Grammofonplatten zu besitzen – kurz gesagt, es ist verboten zu leben."
Schreibt Mary im Juli 1941 in ihr Tagebuch. Sie ist Teil einer jungen, künstlerischen Gruppe. Sie gestalten Revue-Abende, singen englische Jazzlieder und organisieren Konzerte berühmter Pianisten, die sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten müssen. Noch haben sie Hoffnung, dass der Krieg und ihr Martyrium bald zu Ende ist.
Das Ende im Ghetto
1942 grassieren Typhus und Skorbut. Hunger und Kälte haben die Menschen entkräftet, Hunderte sterben jeden Tag auf den Straßen, unter ihnen bis auf die Knochen abgemagerte Kinder. Berg beschreibt dieses alltägliche Grauen, dazu die permanente Angst vor den sadistischen Aktionen der Nationalsozialsten.
"Morgen Abend ist Rosch ha-Schana, das jüdische Neujahrsfest. Wir haben Angst, dass die Nazis für diesen heiligen Tag etwas Furchtbares planen, denn an jedem jüdischen Feiertag machen sie etwas besonders Brutales."
Neben ihren Schilderungen vom täglichen Überlebenskampf beschreibt sie die Verzweiflung und Panik im Ghetto, wenn die Nationalsozialisten beginnen, bestimmte Kontingente für die Deportationen zu verlangen. Dass die sogenannten Umsiedlungsaktionen in den Osten in Wahrheit Transporte in die Todesfabriken sind, weiß zu dem Zeitpunkt kaum jemand.
Ein einflussreicher Kontakt stellt Marys halbamerikanischer Familie schließlich in Aussicht, auszureisen. Nach monatelangem Hin und Her kann die Familie schließlich im Juli 1942 das Ghetto verlassen. Die Rettung in letzter Minute, wenn auch zunächst in ein Gefängnis direkt neben dem Ghetto – fünf Tage bevor die Nationalsozialisten bekannt geben, dass alle Ghettobewohner deportiert werden.
In den nächsten Monaten hören sie täglich von Massendeportationen und Erschießungen. Mehr als 200.000 Menschen aus dem Warschauer Ghetto werden in dieser Zeit getötet.
Die Flucht gelingt
Mary Berg und ihre Familie dürfen tatsächlich ein halbes Jahr später ausreisen. Überzeugt, dass sie nach Auschwitz deportiert werden, können sie es kaum glauben, als sie mitten in der Nacht in einen Zug einsteigen, der Richtung Posen fährt. Es geht quer durch Deutschland in ein Internierungslager nach Frankreich und einige Monate später mit einem Schiff von Lissabon aus in die USA.
"Am 14. März schälten sich bei Anbruch der Nacht allmählich die Umrisse der amerikanischen Küste aus dem Nebel. Ich sah die Wolkenkratzer von New York, aber meine Gedanken waren in Warschau." Wie so viele Überlebende quälte es auch sie, dass sie dem Inferno entkommen war, während ihre Verwandten und Freunde es nicht geschafft hatten.
Ein einzigartiges Zeugnis
Ihnen hat sie in ihren Tagebüchern ein Denkmal gesetzt: 13 eng beschriebene kleine Notizbücher, zum Teil in Geheimschrift, hatte sie unter großen Gefahren aus dem Ghetto beziehungsweise Gefängnis geschmuggelt.
In New York hat Samuel Shneiderman, ebenso ein polnischer Holocaust-Überlebender, der 1940 in die USA kam, den Wert der Tagebücher von Mary Berg erkannt, gemeinsam haben sie sie 1945 veröffentlicht.
Auch wenn im Laufe der Jahre eine ganze Reihe weiterer authentischer Berichte aus dem Warschauer Ghetto gefunden wurden: Die jugendliche Perspektive von Mary Berg, ihr sprachliches Talent und die detaillierte Beschreibung aller Facetten des Alltagslebens im Ghetto machen ihre Tagebücher zu einem einzigartigen historischen Dokument.