Maryanne Wolf: "Schnelles Lesen, langsames Lesen. Warum wir das Bücherlesen nicht verlernen dürfen"
Übersetzt aus dem Englischen von Susanne Kuhlmann-Krieg
Penguin Verlag, München 2019
304 Seiten, 22 Euro
Auf der Suche nach dem "zweigleisigen Gehirn"
07:35 Minuten
Wir haben noch nie so viel gelesen wie heute! Doch die digitale Datenflut eignet sich das Gehirn nicht als nützliches Wissen an, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Maryanne Wolf - und bietet konkrete Gegenrezepte gegen digitales Analphabetentum.
Lesen muss jedes Kind lernen. Denn während des Übens vernetzen sich automatisch eine Vielzahl von Gehirnregionen. Maryanne Wolf nennt es "die "bewusstseinsverändernde Dimension des Lesevorgangs". Lesen stärkt die Fähigkeit zur Empathie, die Kreativität, die Intelligenz und macht Spaß, so die Autorin. Das Gehirn reagiere auf die Umwelt.
Die kognitive Geduld geht verloren
Doch diese Anpassungskraft hat auch eine Kehrseite: "Je mehr wir an digitalen Geräten lesen, desto stärker reflektiert der Grundschaltkreis unseres Gehirns die Eigenschaften dieses Mediums." Die Leseforscherin bemerkt das an sich selbst, als sie zu ihrem Lieblingsbuch "Das Glasperlenspiel" von Hermann Hesse griff, erschien ihr die Sprache umständlich und langatmig. Erst als sie sich Zeit zum Lesen gönnte, konnte sie die Sprache wieder genießen.
Der negative Einfluss der digitalen Geräte sei auch an Kürzeln wie "tl,dr" sichtbar (Abkürzungen für "too long, didn't read" - "zu lang, hab’s nicht gelesen"). Den "digital Natives" gehe dadurch die kognitive Geduld für wirkliches Verstehen verloren, fürchtet Wolf. Die Folgen für unsere offene, demokratische Gesellschaft seien unabsehbar: Denn nur wer in der Lage ist, komplexe Zusammenhänge zu erfassen und zu verstehen, kann sich gesellschaftlich einbringen und Entscheidungen fällen.
Nicht alle Studien überzeugen
Klingt plausibel. Andererseits scheint die "Fridays for Future"-Generation durchaus in der Lage, komplexe Zusammenhänge zu verstehen. Und dass allein langsames Lesen die Gehirnentwicklung positiv beeinflusst, ist ebenfalls fraglich.
Die Diagnose vor einem digitalen Analphabetismus scheint daher übertrieben. Zumal auch nicht alle zitierten Studien überzeugen und die düsteren Prognosen oft gleich wieder eingeschränkt werden: "wahrscheinlich", "möglicherweise", schreibt die Autorin dementsprechend oft.
Mehr und bessere Bildung erforderlich
Umso erfrischender ist es, dass Maryanne Wolf im zweiten Teil ihres Buches ein Bildungsprojekt skizziert, das ein "zweigleisig arbeitendes Gehirn" zum Ziel hat. Es soll mühelos wechseln können zwischen dem tiefen, langsamen Lesen des gedruckten Buches und dem schnellen, effektiven digitaler präsentierter Informationen. Basis dafür bleibt zwar die Fähigkeit, flüssig lesen zu können, aber die gezielte Nutzung des Internets soll gezielt geschult werden.
Dazu brauchen Lehrer Fortbildungen. Wird die digitale Bildung weiter vernachlässigt, gewinnt "tl,dr": "Wenn gutes Lesen in Gefahr gerät, sind wir alle gefährdet", sagt Maryanne Wolf – und schaut trotzdem optimistisch in die Zukunft: Stellt man die Weichen bald um, können Kinder digitale Schnelligkeit und das langsame Buchlesen erfolgreich miteinander kombinieren.