"Masern sind wirklich keine harmlose Erkrankung"
Nach der starken Zunahme von Masernerkrankungen in Deutschland rät der Virologe Benedikt Weißbrich von der Universität Würzburg zu einer allgemeinen Impfpflicht von Kindern. Auch die Schließung von Schulen wegen akuter Masernfälle sei aus seiner Sicht gerechtfertigt.
Ulrike Timm: Mehr als 1.200 Menschen sind seit Jahresbeginn an Masern erkrankt, im gesamten vergangenen Jahr waren es 166. Fast immer erwischt es Kinder, und in den vergangenen Wochen wurden an verschiedenen Orten bereits Schulen geschlossen wegen der Masernfälle, so in Liblar in der Nähe von Köln oder in Landsberg in Bayern. Kinderärzte führen die höhere Anzahl an Masernerkrankungen auf eine generelle Impfmüdigkeit zurück, Politiker erwägen jetzt eine Impfpflicht, und auch nicht-geimpfte Kinder von der Schule auszuschließen, wenn die Krankheit ausbricht. Ist das sinnvoll? Ist das übertrieben angesichts einer Krankheit, die zumindest in Westdeutschland noch vor 30, 40 Jahren als eine Kinderkrankheit unter vielen galt, die man eben durchmachen musste? Wir sprechen darüber mit dem Virologen Benedikt Weißbrich von der Universität Würzburg. Vergangene Woche erst veröffentlichte die Uni gemeinsam mit dem bayrischen Landesamt für Gesundheit eine Studie, in der die Spätfolgen von Masern untersucht wurden. Schönen guten Tag, Herr Weißbrich!
Benedikt Weißbrich: Guten Tag, Frau Timm!
Timm: Herr Weißbrich, sind Masern denn tatsächlich gefährlicher als andere Kinderkrankheiten?
Weißbrich: Ich denke schon, dass man das so sagen kann. Masern sind wirklich keine harmlose Erkrankung. Man weiß aus vielen Untersuchungen, dass die Wahrscheinlichkeit, an akuten Masern-Infektionen zu versterben, in der Größenordnung von 1 zu 10.000 liegt, und eine schwere Gehirnentzündung akut mit Masern zu bekommen, in der Größenordnung von 1 zu 1.000. Und viele dieser Gehirnentzündungen werden mit bleibenden Folgen verlaufen. Dazu kommen Lungenentzündungen, die sehr schwer verlaufen können – also Masern sind wirklich keine harmlose Erkrankung, sondern pro Jahr sterben laut Statistischem Bundesamt ein bis zwei Menschen in Deutschland an Masern.
Timm: Das ist natürlich schlimm, und es sind gerade durch die Presse zwei Todesfälle gegangen, wo zwei Jugendliche, ein Junge, ein Mädchen, viele Jahre nach so einer Maserninfektion an Gehirnentzündung verstorben sind. Das ist furchtbar. Ich stutze natürlich auch als Laiin, wenn es heißt, die beiden hätten sich vor über zehn Jahren in der Praxis eines Kinderarztes angesteckt. Kann man so was wirklich wissen?
Weißbrich: Das kann man wissen. Diese Erkrankung, die diese Kinder hatten, das ist die sogenannte Subakute sklerosierende Panenzephalitis, abgekürzt SSPE. Das ist eine schleichende Gehirnentzündung, die erst viele Jahre nach der Masernerkrankung auftritt, das ist so im Schnitt sechs bis acht Jahre, kann aber auch manchmal deutlich länger sein. Und man kann diese Erkrankung ganz genau diagnostizieren, indem man Abwehrstoffe gegen Masern misst, und kann dann sagen, das ist die SSPE, und die SSPE ist immer durch Masernvirus verursacht. Und im Fall von den zwei Kindern, von denen Sie berichten, wusste man, dass diese Kinder sich 1999 in einer Kinderarztpraxis angesteckt haben. Man wusste, sie haben als Säuglinge Masern gehabt. Die Kinder waren damals jünger als ein Jahr, konnten auch gar nicht geimpft werden. Die Eltern waren mit den Kindern zu Vorsorgeuntersuchungen beim Arzt, und es war ein elfjähriger Junge in der Praxis, der Masern hatte, aber noch im Frühstadium, sodass noch nicht erkennbar war, dass der Masern hatte – in diesem Stadium ist man aber besonders infektiös –, der hat fünf Kinder angesteckt, darunter drei Säuglinge. Und zwei von diesen Säuglingen haben diese schleichende Gehirnentzündung SSPE bekommen.
Das ist fürchterlich. Es zeigt aber auch, wie hoch das Risiko ist, gerade wenn man im Säuglingsalter Masern bekommt, dann später diese SSPE zu entwickeln. Dieses Risiko ist wahrscheinlich in der Größenordnung 1 zu 100 oder vielleicht sogar niedriger, wenn man hier sieht, zwei von drei Säuglingen haben diese Erkrankung bekommen.
Timm: Herr Weißbrich, Sie haben das in dieser Studie auch statistisch dann so beschrieben, dass eines von 3.300 Kindern, das in der Altersgruppe bis fünf Jahren erkrankt, dann stirbt. Das ist furchtbar, ich möchte überhaupt nicht zynisch klingen, das ist schrecklich, aber andererseits ist es so, wenn man weiß, dass von 1.000 Kindern bis zu einem Jahr auch drei bis vier Kinder sterben, dann relativieren sich die Zahlen natürlich. Kann man vor diesem Hintergrund wirklich schon eine allgemeine Impfpflicht fordern? Würde das wirklich so viel bringen?
Weißbrich: Also wissen Sie, als ich ein kleines Kind war, sagen wir mal, das war Anfang der 70er-Jahre, da habe ich mit meinen drei Geschwistern auf der Rückbank eines Autos gesessen, ohne Sicherheitsgurte und ohne Kindersitze, und es ist überhaupt nie was passiert, und deswegen denke ich, Kindersitze und Sicherheitsgurte sind Quatsch. Das ist jetzt natürlich nicht mein Ernst, ich will damit nur sagen, die Entwicklung schreitet voran, heute schützen wir unsere Kinder durch Kindersitze und Sicherheitsgurte, und genau so kann man sich heute durch Impfung vor tödlichen Erkrankungen schützen. Und jedes Kind, was verstirbt, genau so wie jeder Erwachsene, der verstirbt, ist ein Fall zu viel, und wenn das verhindert werden kann, dann finde ich schon, man muss überlegen, was kann man machen, um das zu verhindern. Und da ist die sogenannte Impfpflicht möglicherweise ein Weg, um bessere Durchimpfungsraten zu bekommen.
Wobei "Impfpflicht" – das muss man vielleicht auch ein bisschen relativieren. Es geht ja nicht darum, dass Kinder polizeilich beim Amtsarzt vorgeführt werden und dann die Impfung bekommen. Aber ich denke, es geht schon darum, zu kontrollieren, wenn Kinder in Betreuungseinrichtungen kommen, Kinderkrippen, Kindergärten, Schulen: Wie ist denn der Impfschutz? Und dass man dann auch möglicherweise Unterschiede macht zwischen geimpften und ungeimpften Kindern. Wichtig ist in dem Zusammenhang auch Aufklärungsarbeit, damit diejenigen, die unwissend sind oder gleichgültig sind gegenüber der Impfung, damit die zusätzliche Motivation bekommen, geimpft zu werden.
Benedikt Weißbrich: Guten Tag, Frau Timm!
Timm: Herr Weißbrich, sind Masern denn tatsächlich gefährlicher als andere Kinderkrankheiten?
Weißbrich: Ich denke schon, dass man das so sagen kann. Masern sind wirklich keine harmlose Erkrankung. Man weiß aus vielen Untersuchungen, dass die Wahrscheinlichkeit, an akuten Masern-Infektionen zu versterben, in der Größenordnung von 1 zu 10.000 liegt, und eine schwere Gehirnentzündung akut mit Masern zu bekommen, in der Größenordnung von 1 zu 1.000. Und viele dieser Gehirnentzündungen werden mit bleibenden Folgen verlaufen. Dazu kommen Lungenentzündungen, die sehr schwer verlaufen können – also Masern sind wirklich keine harmlose Erkrankung, sondern pro Jahr sterben laut Statistischem Bundesamt ein bis zwei Menschen in Deutschland an Masern.
Timm: Das ist natürlich schlimm, und es sind gerade durch die Presse zwei Todesfälle gegangen, wo zwei Jugendliche, ein Junge, ein Mädchen, viele Jahre nach so einer Maserninfektion an Gehirnentzündung verstorben sind. Das ist furchtbar. Ich stutze natürlich auch als Laiin, wenn es heißt, die beiden hätten sich vor über zehn Jahren in der Praxis eines Kinderarztes angesteckt. Kann man so was wirklich wissen?
Weißbrich: Das kann man wissen. Diese Erkrankung, die diese Kinder hatten, das ist die sogenannte Subakute sklerosierende Panenzephalitis, abgekürzt SSPE. Das ist eine schleichende Gehirnentzündung, die erst viele Jahre nach der Masernerkrankung auftritt, das ist so im Schnitt sechs bis acht Jahre, kann aber auch manchmal deutlich länger sein. Und man kann diese Erkrankung ganz genau diagnostizieren, indem man Abwehrstoffe gegen Masern misst, und kann dann sagen, das ist die SSPE, und die SSPE ist immer durch Masernvirus verursacht. Und im Fall von den zwei Kindern, von denen Sie berichten, wusste man, dass diese Kinder sich 1999 in einer Kinderarztpraxis angesteckt haben. Man wusste, sie haben als Säuglinge Masern gehabt. Die Kinder waren damals jünger als ein Jahr, konnten auch gar nicht geimpft werden. Die Eltern waren mit den Kindern zu Vorsorgeuntersuchungen beim Arzt, und es war ein elfjähriger Junge in der Praxis, der Masern hatte, aber noch im Frühstadium, sodass noch nicht erkennbar war, dass der Masern hatte – in diesem Stadium ist man aber besonders infektiös –, der hat fünf Kinder angesteckt, darunter drei Säuglinge. Und zwei von diesen Säuglingen haben diese schleichende Gehirnentzündung SSPE bekommen.
Das ist fürchterlich. Es zeigt aber auch, wie hoch das Risiko ist, gerade wenn man im Säuglingsalter Masern bekommt, dann später diese SSPE zu entwickeln. Dieses Risiko ist wahrscheinlich in der Größenordnung 1 zu 100 oder vielleicht sogar niedriger, wenn man hier sieht, zwei von drei Säuglingen haben diese Erkrankung bekommen.
Timm: Herr Weißbrich, Sie haben das in dieser Studie auch statistisch dann so beschrieben, dass eines von 3.300 Kindern, das in der Altersgruppe bis fünf Jahren erkrankt, dann stirbt. Das ist furchtbar, ich möchte überhaupt nicht zynisch klingen, das ist schrecklich, aber andererseits ist es so, wenn man weiß, dass von 1.000 Kindern bis zu einem Jahr auch drei bis vier Kinder sterben, dann relativieren sich die Zahlen natürlich. Kann man vor diesem Hintergrund wirklich schon eine allgemeine Impfpflicht fordern? Würde das wirklich so viel bringen?
Weißbrich: Also wissen Sie, als ich ein kleines Kind war, sagen wir mal, das war Anfang der 70er-Jahre, da habe ich mit meinen drei Geschwistern auf der Rückbank eines Autos gesessen, ohne Sicherheitsgurte und ohne Kindersitze, und es ist überhaupt nie was passiert, und deswegen denke ich, Kindersitze und Sicherheitsgurte sind Quatsch. Das ist jetzt natürlich nicht mein Ernst, ich will damit nur sagen, die Entwicklung schreitet voran, heute schützen wir unsere Kinder durch Kindersitze und Sicherheitsgurte, und genau so kann man sich heute durch Impfung vor tödlichen Erkrankungen schützen. Und jedes Kind, was verstirbt, genau so wie jeder Erwachsene, der verstirbt, ist ein Fall zu viel, und wenn das verhindert werden kann, dann finde ich schon, man muss überlegen, was kann man machen, um das zu verhindern. Und da ist die sogenannte Impfpflicht möglicherweise ein Weg, um bessere Durchimpfungsraten zu bekommen.
Wobei "Impfpflicht" – das muss man vielleicht auch ein bisschen relativieren. Es geht ja nicht darum, dass Kinder polizeilich beim Amtsarzt vorgeführt werden und dann die Impfung bekommen. Aber ich denke, es geht schon darum, zu kontrollieren, wenn Kinder in Betreuungseinrichtungen kommen, Kinderkrippen, Kindergärten, Schulen: Wie ist denn der Impfschutz? Und dass man dann auch möglicherweise Unterschiede macht zwischen geimpften und ungeimpften Kindern. Wichtig ist in dem Zusammenhang auch Aufklärungsarbeit, damit diejenigen, die unwissend sind oder gleichgültig sind gegenüber der Impfung, damit die zusätzliche Motivation bekommen, geimpft zu werden.
Impfung hat weltweit viele Hunderttausend Todesfälle verhindert
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit dem Virologen Benedikt Weißbrich über die Zunahme von Masernerkrankungen und dem Sinn oder auch den Unsinn einer Impfpflicht. Herr Weißbrich, Sie sind Jahrgang 65, und da galten Windpocken, Mumps und Masern als was, da musste man durch, und wenn in einer Familie mehrere Kinder waren, dann war diese Familie eben zwei Wochen lahmgelegt. Jenseits dieses kleinen statistischen Risikos, diese ganz, ganz schlimmen Folgen zu haben, hieß es damals: Ein Kind, das seine Kinderkrankheiten durchgemacht hat, ist danach eigentlich sogar widerstandsfähiger. Ist da was dran?
Weißbrich: Ich glaube, es gibt keine Studien, die das zeigen, und jetzt gerade für die Masernimpfung, Windpockenimpfungen, Mumps- und Rötelimpfungen ist es tatsächlich ja so, dass der Impfstoff ein Virus enthält, ein abgeschwächtes Virus, das die ganz schweren Erkrankungen nicht mehr macht, aber es ist durchaus so, dass der Körper sich quasi auf natürlichem Wege mit diesem Virus auseinandersetzen muss. Davon abgesehen gibt es so viele Erkrankungen im Kindesalter, respiratorische Infekte und Durchfallerkrankungen, dass das Immunsystem meines Kindes genug Gelegenheit hat zu reifen. Und ich denke nicht, dass das dann an den ganz schlimmen, schweren Erkrankungen reifen muss, wo einfach eine hohe Komplikationsrate ist.
Wenn Sie das vergleichen mit anderen Risiken, im Straßenverkehr zu versterben – wir haben, glaube ich, 80 Millionen Einwohner in Deutschland, 3.600 Verkehrstote, das ist ein Risiko von circa 1 zu 20.000, im Straßenverkehr umzukommen –, und wenn ein Kind Masern hat, dann sind wir im ersten Lebensjahr in der Größenordnung eins zu ein paar Hundert, und, sagen wir mal, diese Altersgruppe kleiner fünf Jahren 1 zu 3.000, SSPE zu bekommen, akute Komplikationen 1 zu 1.000 bis 1 zu 10.000. Das ist hoch, das ist nicht wenig, das ist nichts, was man für sein eigenes Kind in Kauf nehmen möchte.
Timm: Trotzdem fällt ja auf, zu Ihrer und meiner Kinderzeit wurde nicht geimpft und es gab keine Panik, und es wurden keine Schulen geschlossen wegen einiger Fälle, und man hat nicht überlegt, ob Kinder, die nicht geimpft wurden, in die Schule gehen dürfen oder nicht. Heute wird in aller Regel geimpft, es gibt trotzdem viel mehr Angst. Was sagt uns das, sind da die Relationen wirklich immer gewahrt?
Weißbrich: Die Medizin macht Fortschritte. Als ich auf die Welt kam, da gab es die Masernimpfung noch nicht, die Masernimpfung ist in Deutschland Anfang der 70er-Jahre empfohlen worden, und das ist ein Segen gewesen. Mit der Masernimpfung sind weltweit schon viele Hunderttausend Maserntodesfälle verhindert worden, und wir haben jetzt die Möglichkeit, das zu verhindern. Dass wir jetzt in Deutschland in Anführungszeichen "nur noch" 1.000 Fälle bisher in diesem Jahr haben, ist natürlich auch ein riesengroßer Erfolg. Früher waren es einige Hunderttausend Fälle.
Timm: Nun schließen ja ganze Schulen wegen einer Handvoll Masernfälle. Ist diese Maßnahme aus Ihrer Sicht wirklich gerechtfertigt oder ist die übertrieben?
Weißbrich: Ich finde das gerechtfertigt. Es geht ja auch darum, Infektketten wirklich zu unterbrechen. Und in einer Schule – also Beispiele, wie Sie genannt haben, da sind ja auch Waldorfschulen darunter. Und man weiß, dass die Durchimpfungsraten da nicht so hoch sind, und man weiß auch, wenn ein Kind in der ansteckenden Phase mit Masern in einem Raum mit anderen ist, die nicht immun sind, dann werden praktisch alle infiziert. Und wenn man in so einer Schule, wo viele Kinder zusammen sind, diese Möglichkeiten schafft, dann werden diese Kinder diese Infektion in die Familien tragen und von dort weiter im öffentlichen Personennahverkehr, oder wo immer sie sich bewegen, in der Phase, wo sie noch nicht so krank sind, zu Hause im Bett zu liegen, da werden weitere Infektketten entstehen. Und das ist ein Grund, denke ich, diese Maßnahmen zu ergreifen, und dann aber auch die Kinder zu schützen, weil Masern einfach keine harmlose Erkrankung sind.
Timm: Der Virologe Benedikt Weißbrich hat über die Spätfolgen schwerer Masernfälle geforscht, er arbeitet an der Universität Würzburg und ist ein klarer Befürworter von Impfungen gegen Masern. Herr Weißbrich, ich danke Ihnen fürs Gespräch!
Weißbrich: Vielen Dank auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.