Masha Gessen: "Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor"
Aus dem Englischen von Anselm Bühling
Berlin, Suhrkamp 2018
639 Seiten, 26 Euro
Freiheit als traumatische Erfahrung
Masha Gessens faktografischer Roman „Die Zukunft ist Geschichte“ zeichnet ein außergewöhnlich vielschichtiges Bild der postsowjetischen Gesellschaft. An vier Russen zeigt sie einfühlsam, wie Hoffnungen und Ängste das Leben bestimmten.
"Die Zukunft ist Geschichte": Der Titel ist doppeldeutig, bezeichnet entweder die Mehrheit, die sich im Putin-Russland von der Glorifizierung einer nationalen Vergangenheit einlullen lässt oder aber die sehr viel kleinere Gruppe derer, die im unmittelbar postsowjetischen Russland ein Gefühl von Freiheit erlebte, von der heute nichts übrig ist. Deren Geschichte erzählt Masha Gessen.
In den fast 650 Seiten stecken zwei Bücher: Eine Analyse der postsowjetischen Gesellschaft mit den Mitteln der Soziologie und der Psychoanalyse, dabei unter der Hand eine kleine Geschichte der Sozialwissenschaften im Russland des 20. und 21. Jahrhunderts, und das, was die Autorin selbst einen "umfangreichen faktografischen russischen Roman" nennt, "der sowohl die individuellen Tragödien darstellen soll als auch die Ereignisse und Ideen, die sie geprägt haben".
Vereinfachte Nationalgeschichte sichert autoritäre Strukturen
Es ist ein Roman über den Einbruch der Freiheit in eine Gesellschaft, die dafür keinen großen, dafür einen berechenbaren Raum bereit hielt. Gessen spricht von der Zukunft, die sich den Menschen als "schmaler, aber hell erleuchteter Korridor" dargestellt habe, an deren Stelle in den Neunzigern eine Zukunft trat, die "ein weites offenes Feld" war – für viele eine traumatische Erfahrung. Es war Putin, der "diese unübersichtliche Welt mit seiner einfachen Diktion wieder verständlich" machte – was den Menschen die Freiheit und vielen die Zukunft nahm.
Die populistische Instrumentalisierung einer vereinfachten Nationalgeschichte zur Absicherung autoritärer Strukturen und zur Ausgrenzung von Minderheiten ist ein weltweit zu beobachtendes Phänomen unserer Tage. Aber jede Gesellschaft hat auch ihre jeweils eigene Geschichte, die dorthin führt. Und die ist für Russland vielleicht noch nie so umfassend, so detailliert und so tief erzählt worden.
Weite, fließende Erzählung
Das gelingt, weil Gessen mit großem Rechercheaufwand und nicht minder großem Einfühlungsvermögen, das sind dann wohl zwei der Ingredienzien für einen großen russischen Roman, die Geschichten einer Handvoll Protagonistinnen und Protagonisten, die alle kurz nach 1980 geboren sind, ineinander und in eine Erzählung von Russland webt.
Von Jelzin über Chodorkowski bis Boris Nemzow, vom Maidan 2004 über die Annexion der Krim, die Verurteilung von Pussy Riot bis zum "Gesetz zum Schutz der Kinder vor gesundheits- und entwicklungsschädigenden Informationen" – all die Nachrichten, die uns auch im Westen in den letzten 30 Jahren erreichten, erhalten in dieser weiten, fließenden Erzählung ihren Ort wie Mosaiksteine in einem Historientableau, für dessen Grundierung Masha Gessen Freuds Bild vom Todestrieb zitiert, der womöglich auch ganze Gesellschaften erfassen kann:
"Dieses Land wollte sich selbst töten, alles Lebendige – die Menschen, ihre Worte, ihr Protest, ihre Liebe – rief hier Aggressionen hervor. Die Lebensenergie war dieser Gesellschaft unerträglich geworden. Sie wollte sterben; das Leben war ein ausländischer Agent."
Und so steckt in der eindringlichen Erzählung noch ein drittes Buch: Masha Gessens eigene Geschichte, die Geschichte einer lesbischen Jüdin, die in den USA lebt und arbeitet. Das Russland Putins, dem sie eine Biographie widmete, hätte für sie keinen Platz.