Masken und Schleier
Ein Jahrhundertwerk in 13 Essays: Sie markieren die Stationen eines enzyklopädischen Denkers, dessen subtile Textanalysen stets auch "Seelenforschung" sind. Jean Starobinski sucht nach der geheimnisvollen Gangart der Poesie.
In seiner "Autobiographischen Skizze bei Gelegenheit des Merck-Serono-Preises, Rom, 2009", die den Essayband "Wege der Poesie" beschließt, durchschreitet der 1920 geborene Arzt, Medizinhistoriker, Literatur- und Ideengeschichtlicher Jean Starobinski noch einmal sein Jahrhundertwerk. Als einer der wenigen Universalgelehrten des 20. Jahrhunderts denkt er die Geistes- und Naturwissenschaften in ihrer symbiotischen Wechselwirkung. Denn die Erkenntnisse der vermeintlich harten Wissenschaft sind zwar revolutionär, doch kommt dabei nicht zur Sprache, "welches die moralischen Imperative sind, die, sei es beim Erwerb, sei es bei der Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnis, respektiert werden sollen".
In einer einzigartigen Auswahl enthält der Band "Wege der Poesie" 13 von Starobinskis zwischen 1968 und 2004 entstandenen Essays. Sie markieren die Stationen eines enzyklopädischen Denkers, dessen subtile Textanalysen stets auch "Seelenforschung" sind. Deutlich wird anhand der Texte, dass sich der Mediziner der Literatur nicht als einer Hilfswissenschaft bedient. Starobinski denkt wissenschaftlich exakt und sucht nach der geheimnisvollen Gangart der Poesie.
In "Franz Kafka. Blicke auf das Bild" von 1984 beispielsweise geht er davon aus, dass Kafkas Werk zwar unbegrenzt interpretierbar erscheint, letztlich aber "uninterpretierbar" ist. Am Motiv des Fensters konkretisiert er seine Überlegungen. Das mit dem Akt des Wohnens verknüpfte Wort ruft verschiedene Assoziationen von Innen und Außen, Nähe und Ferne hervor. Doch Kafka verleiht dem Wort noch eine andere Bedeutung. 1903 schreibt er an seinen Freund Oskar Pollak: "Du warst, neben vielem andern, auch etwas wie ein Fenster für mich, durch das ich auf die Gassen sehen konnte." In der Verbindung von fiktionalem Text und Briefnotiz ergibt sich eine fragile Mischung von "Sinn und Materialität". Das Fenster scheint als Motiv aus dem metaphorischen System herauszufallen. Vielleicht, so fragt Starobinski, denkt Kafka an die "Fenster der Kindheit" – wo Leben war, bevor die innere Kälte jene Bilder hervorrief, um "die Leere zu maskieren".
Der Übersetzer Horst Günther verweist in seinem Nachwort auf Starobinskis singuläre Begabung, die in einem Bereich geschulten Fähigkeiten für das jeweils andere Fach produktiv zu machen. Mit seinen Untersuchungen zum Werk Jean-Jacques Rousseaus – bereits 1957 erschien die Rousseau-Interpretation "La transparence et l’obstacle" – legte er den Grundstein dafür, den Aufklärer und geistigen Wegbereiter der Französischen Revolution aus einer völlig neuen Perspektive zu sehen. Durch Starobinskis Lektüre lernt der Leser, den Autor durch seine "Masken und Schleier" hindurch zu verstehen.
Jean Starobinskis Leben und Werk zeichnet eine angewandte und reflektierte Interdisziplinarität aus. Die vorliegende Essaysammlung macht Appetit auf mehr Starobinski: ein rhetorisch wie ästhetisch vergnüglicher Einstieg für all jene, die mit der Lektüre dieses facettenreichen Werkes erst beginnen wollen.
Besprochen von Carola Wiemers
Jean Starobinski, Wege der Poesie
Aus dem Französischen von Horst Günther
Carl Hanser Verlag,München 2011
288 Seiten, 19,90 Euro
In einer einzigartigen Auswahl enthält der Band "Wege der Poesie" 13 von Starobinskis zwischen 1968 und 2004 entstandenen Essays. Sie markieren die Stationen eines enzyklopädischen Denkers, dessen subtile Textanalysen stets auch "Seelenforschung" sind. Deutlich wird anhand der Texte, dass sich der Mediziner der Literatur nicht als einer Hilfswissenschaft bedient. Starobinski denkt wissenschaftlich exakt und sucht nach der geheimnisvollen Gangart der Poesie.
In "Franz Kafka. Blicke auf das Bild" von 1984 beispielsweise geht er davon aus, dass Kafkas Werk zwar unbegrenzt interpretierbar erscheint, letztlich aber "uninterpretierbar" ist. Am Motiv des Fensters konkretisiert er seine Überlegungen. Das mit dem Akt des Wohnens verknüpfte Wort ruft verschiedene Assoziationen von Innen und Außen, Nähe und Ferne hervor. Doch Kafka verleiht dem Wort noch eine andere Bedeutung. 1903 schreibt er an seinen Freund Oskar Pollak: "Du warst, neben vielem andern, auch etwas wie ein Fenster für mich, durch das ich auf die Gassen sehen konnte." In der Verbindung von fiktionalem Text und Briefnotiz ergibt sich eine fragile Mischung von "Sinn und Materialität". Das Fenster scheint als Motiv aus dem metaphorischen System herauszufallen. Vielleicht, so fragt Starobinski, denkt Kafka an die "Fenster der Kindheit" – wo Leben war, bevor die innere Kälte jene Bilder hervorrief, um "die Leere zu maskieren".
Der Übersetzer Horst Günther verweist in seinem Nachwort auf Starobinskis singuläre Begabung, die in einem Bereich geschulten Fähigkeiten für das jeweils andere Fach produktiv zu machen. Mit seinen Untersuchungen zum Werk Jean-Jacques Rousseaus – bereits 1957 erschien die Rousseau-Interpretation "La transparence et l’obstacle" – legte er den Grundstein dafür, den Aufklärer und geistigen Wegbereiter der Französischen Revolution aus einer völlig neuen Perspektive zu sehen. Durch Starobinskis Lektüre lernt der Leser, den Autor durch seine "Masken und Schleier" hindurch zu verstehen.
Jean Starobinskis Leben und Werk zeichnet eine angewandte und reflektierte Interdisziplinarität aus. Die vorliegende Essaysammlung macht Appetit auf mehr Starobinski: ein rhetorisch wie ästhetisch vergnüglicher Einstieg für all jene, die mit der Lektüre dieses facettenreichen Werkes erst beginnen wollen.
Besprochen von Carola Wiemers
Jean Starobinski, Wege der Poesie
Aus dem Französischen von Horst Günther
Carl Hanser Verlag,München 2011
288 Seiten, 19,90 Euro