Maskulinisierung durch Selektion

Rezensiert von Andreas Rinke |
Die in China lebende Wissenschafts-Journalistin hat sich um nicht weniger als 160 Millionen Schicksale gekümmert. Das düstere Urteil Hvistendahls lautet: Es gibt sie nicht, weil seit Jahrzehnten in Ländern wie China oder Indien in riesiger Zahl speziell weibliche Föten abgetrieben oder sogar geborene Mädchen getötet wurden und werden.
Die Dramatik bei Hvistendahls Recherche liegt in der schieren Zahl und der These, dass es sich bei der Geschlechter-Selektion keineswegs um ein antiquiertes brutales System handelt. Ende des 18. Jahrhunderts ist von dem britischen Kolonialbeamten Jonathan Duncan bereits festgehalten worden, dass es reiche Bauernkasten in Indien gibt, die systematisch weiblichen Nachwuchs töten. Zudem gibt es bis heute in vielen Ländern die Tradition, Frauen eine Mitgift mit in die Ehe zu geben. Nur hat sich das massenhafte Morden an Mädchen-Föten laut Hvistendahl durch den wachsenden Kontakt mit dem Westen und dem technologischen Fortschritt noch verstärkt. Vor allem der Einsatz importierter Ultraschall-Geräte in den beiden bevölkerungsreichsten Staaten China und Indien sorgte für die galoppierende demographische Maskulinisierung der Gesellschaft.

"Besser 500 Rupien jetzt als 500.000 Rupien später."

lautet ein indischer Ausdruck, der die Gebühren für die Ultraschalluntersuchung preist. Wachsender Wohlstand hat die Überlebenschancen von Mädchen also noch verschlechtert.

Faszinierend ist dabei der Ansatz der Autorin, das Thema aus jeweils anderen Blickwinkeln zu betrachten. Nur durch das Zusammenspiel von Eltern, Ärzten, Industrie, Demographen und dem Einsatz der Technik konnte das informelle Tötungs-Komplott entstehen, das dafür sorgte, dass in Südostasien heute jene 160 Millionen Mädchen weniger leben als dies nach der natürlichen Verteilung eigentlich sein müsste. Auch staatliche Verbote der Geschlechter-Selektion wirken nicht, weil Ärzte bestochen werden, nach den Ultraschall-Aufnahmen die gewünschte Information preiszugeben.

"Der Umstand, dass Geschlechts-Selektion ein medizinischer Akt ist, verteilt die moralische Last auf zwei Schultern: Die Eltern sagen, dass es der Arzt am besten weiß , während die Ärzte auf das überwältigende Interesse der Eltern nach der Auswahl des Geschlechts verweisen."

Hvistendahl beschränkt sich aber nicht nur auf die Suche nach den Ursachen, sondern spürt auch den gesellschaftlichen Folgen der Selektion nach. Denn zeitversetzt hat es dramatische Auswirkungen, wenn etwa im Nordwesten Indiens um das Jahr 2020 fast 20 Prozent der heiratsfähigen Männer keine Frau finden werden. Die Autorin zieht einen Vergleich mit der Besiedlung Amerikas, dem "Wilden Westen", in dem die Zahl der Männer die der Frauen anfangs erheblich überstieg und kommt zu der nüchternen Einschätzung:

"Historisch gesehen waren Gesellschaften, in denen die Zahl der Männer die der Frauen erheblich übertraf, keine schönen Orte zum Leben. Oft waren sie instabil. Manchmal waren sie brutal."

Mittlerweile ist dies auch den Behörden in den bevölkerungsreichsten Staaten der Erde klar. In dem auf Stabilität der Bevölkerung fixierten China wird längst über die Folgen der "Überschuss-Männer" geforscht. Aber Hvistendahl verweist darauf, dass in den betroffenen Regionen die Zahl der Entführungen von Frauen ebenso wie die Zahl der Prostituierten steigt. Dazu kommt der offenbar gut organisierte "Import" von Frauen aus ärmeren Nachbarländern wie Vietnam oder Kambodscha nach Taiwan oder Südkorea. In China sollen 80 Prozent der nordkoreanischen Flüchtlinge mittlerweile Frauen sein.

Ein Manko des Buches ist es sicher, dass Hvistendahl der Frage nicht wirklich nachgeht, ob das Aggressionspotential von Millionen überschüssiger Männer von Regierungen oder radikalen Gruppen nicht auch politisch genutzt und die Frustration nach außen gelenkt werden kann. Sie tut dies mit dem Hinweis ab, dass die deutsche Gesellschaft bei der Machtergreifung Hitlers wegen der Toten des Ersten Weltkriegs im Gegenteil einen massiven Überschuss an Frauen zu verzeichnen hatte. Aber tatsächlich nutzt China bereits heute ein Heer männlicher, unverheirateter Arbeitskräfte, um sie weltweit für Bauprojekte einzusetzen oder gezielt als Bauern anzusiedeln.

Die zweite, wegen der umfassenden Recherchen in China und Indien aber fast zwangsläufige Lücke in dem faszinierenden Buch ist die westliche Welt und vor allem Europa. Zwar sind hier die zahlenmäßigen Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen nicht so dramatisch. Aber zum einen hat es den Wunsch nach männlichem Nachwuchs gerade in ländlichen Räumen auch hierzulande gegeben. Zum anderen läuft die Selektion auch in eine andere Richtung: So beschreibt Hvistendahl am Ende des Buches eine Befruchtungsklinik in Kalifornien, die Eltern nicht nur den ersehnten Nachwuchs beschafft, sondern ihnen auch eine Auswahl nach vielen genetischen Kriterien erlaubt. Nur wollen die meisten Eltern hier Mädchen.

Dies trifft übrigens auch in einigen bäuerlichen Gegenden Vietnams zu, die sich zum Gegenpol der Jungen-Auslese in China und Korea entwickeln: Dort werden bei den Embryos Mädchen selektiert - weil sie sich gut an Ausländer verheiraten lassen. Der Kreis der Perversion schließt sich.

Mara Hvistendahl: Unnatural Selection. Choosing Boys Over Girls, and the Consequences of a World Full of Men
Public Affairs
Cover Mara Hvistendahl: "Unnatural Selection"
Cover Mara Hvistendahl: "Unnatural Selection"© Verlag Puclic Affairs