Massaker von Srebrenica

Die Erinnerung kommt an die Oberfläche

Schaufeln liegen auf einem Grab in Srebrenica.
Der Friedhof von Srebrenica. © pa/dpa
Ger Duijzings im Gespräch mit Miriam Rossius |
Vor 20 Jahren ermordeten bosnisch-serbische Milizen trotz der Präsenz niederländischer Blauhelmsoldaten tausende bosnische Muslime. Seitdem steht Srebrenica für das Versagen der Internationalen Gemeinschaft. Die Aufarbeitung ist bis heute nicht abgeschlossen, sagt der Südosteuropaexperte Ger Duijzings.
Der Anthropologe und ehemalige Gerichtsgutachter für das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag Ger Duijzings, sieht auch 20 Jahre nach dem Völkermord in Srebrenica die Aufarbeitung noch nicht abgeschlossen. Dabei drohe angesichts aktueller Konflikte wie in der Ukraine der Jugoslawien-Krieg in Vergessenheit zu geraten, erklärte Duijzings im Deutschlandradio Kultur.
Juristische Aufarbeitung
Die juristische Aufarbeitung Srebrenicas, bei der mittlerweile über 20 Personen angeklagt wurden und einige auch wegen Völkermordes verurteilt wurden, sei wichtig, weil dadurch die Fakten präzise aufgearbeitet würden: "Ich finde diese Prozesse sehr wichtig, auch weil es dazu führt, dass wir einen sehr deutlichen, klaren Einblick bekommen haben, wie dieses Massaker organisiert worden ist", erklärte Duijzings, der als Gerichtsgutachter für den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) der Vereinten Nationen in Den Haag tätig war und heute als Professor für Sozialanthropologie mit Schwerpunkt Südost- und Osteuropa am Institut für Geschichte der Universität Regensburg lehrt. In Serbien allerdings würden die Prozesse als Tribunal gegen die serbische Bevölkerung wahrgenommen.
Geschehnisse rekonstruieren
Bei seiner Arbeit habe er Gespräche geführt mit lokalen Politikern sowie mit Opfern und niederländischen Soldaten, um die Geschehnisse zu rekonstruieren. Dabei habe ihn vor allem die Traumatisierung sehr vieler Menschen sowie die Hoffnungslosigkeit und Perspektivlosigkeit erschüttert: "Ich denke, dass der Krieg sehr viele Leben zerstört hat, natürlich vor allem auf muslimischer Seite", sagte Duijzings, der von 1997 bis 2001 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Srebrenica-Forschungsgruppe des Niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation (NIOD) tätig war. Deren Forschungsergebnisse zur Rolle der niederländischen Blauhelmsoldaten hatte 2002 zum Rücktritt der niederländischen Regierung geführt.
Debatte um das Ausbleiben der angeforderten Luftunterstützung flammt wieder auf
Auch in den Niederlanden flamme die Debatte über die Rolle der niederländischen Blauhelmsoldaten wieder auf, die den Angreifern unter General Ratko Mladic die UN-Schutzzone kampflos überlassen hatten. Dabei gehe es aktuell um die Rolle Frankreichs, Englands und der USA bei der Verweigerung der von den UN-Schutztruppen angeforderten Luftunterstützung: "Jetzt sieht es danach aus, dass es ein geheimes Verständnis oder Einverständnis gab zwischen diesen drei Großmächten, dass man das nicht machen würde, also die Holländer irgendwie an ihrem Los so gar nicht unterstützt hat bei der Verteidigung der Enklave."So brächten immer wieder neue Informationen "die peinliche Erinnerung wieder an die Oberfläche."
________________________________________________________________________

Das vollständige Interview im Wortlaut:
Miriam Rossius: Mehr als 50.000 Menschen werden heute im ostbosnischen Srebrenica erwartet zum Gedenken an das Massaker 1995. In der Gedenkstätte vor der Stadt sollen am Nachmittag 136 neu identifizierte Opfer bestattet werden, 136 von mehr als 8.000 muslimischen Jungen und Männern, die vor 20 Jahren ermordet wurden, vor den Augen niederländischer Blauhelmsoldaten. Ger Duijzings ist Sozialanthropologe an der Uni Regensburg mit Schwerpunkt Südosteuropa. Einen schönen guten Morgen!
Ger Duijzings: Guten Morgen!
Rossius: Herr Duijzings, wenn Sie auf das Gedenken heute schauen und auf Ihre Arbeit – Sie haben sehr lange geforscht zu dem Thema –, finden Sie, die Tat erfährt genug Beachtung, oder ist das nur eine Eintagsfliege zum Jahrestag?
Duijzings: Na, ja, natürlich findet dieses Kriegsverbrechen und diese Geschehnisse in Bosnien schon Beachtung, aber öfter hat man doch das Gefühl, dass der Krieg in Jugoslawien irgendwie schon in den Hintergrund des Gedenkens geschoben worden ist. Natürlich gibt es sehr viele Kriege, hat es sehr viele Kriege auch danach gegeben, und zum Beispiel jetzt mit der Ukraine wird öfter mal vergessen, dass Krieg in Jugoslawien auch noch stattgefunden hat. Also da wird manchmal gesagt, dass die Ukraine der erste große Konflikt wieder ist nach dem Zweiten Weltkrieg, und dann ist Jugoslawien öfter schon vergessen, so sieht es aus.
Rossius: Sie sind selbst Niederländer und waren immer wieder vor Ort, haben versucht, den Hergang, die Ursachen für die Tat nachzuvollziehen. Wie sind Sie da vorgegangen?
Interviews mit lokalen Politikern, mit Opfern und mit niederländischen Soldaten
Duijzings: Na ja, ich war natürlich Mitglied eines Research-Teams, Forschungsteams, das sich mit Srebrenica beschäftigt hat, am Niederländischen Institut für Kriegsdokumentation. Und meine Aufgabe war es, die lokalen Verhältnisse besser zu verstehen. Also was ich da vor allem gemacht habe: Zwischen 1997 und 2001 habe ich Interviews, also Gespräche gehabt mit Politikern, lokalen Politikern, aber auch Opfern dieser Geschehnisse, also auch in Srebrenica selber, wo damals eigentlich nur Serben wohnten. Und in den Niederlanden und in anderen Staaten habe ich Interviews gemacht auch mit muslimischen Opfern und auch mit holländischen Soldaten, die da gewesen sind. Ja, meistens als Anthropologe macht man Feldforschung, und das habe ich da auch versucht, zu tun. Aber das war natürlich vor allem darauf bezogen, diese Geschehnisse zu rekonstruieren und zu sehen, was in dieser Region genau passiert ist, auch vor dem Krieg. Also da war ich vor allem interessiert auch, wie eine lokale Gesellschaft irgendwie von ziemlich friedlicher Koexistenz in so einen Krieg ab... wie sagt man das, ... wie sich so ein Konflikt entwickelt eigentlich.
Rossius: Was hat Sie denn bei den Begegnungen mit den Menschen dort am meisten erschüttert?
Duijzings: Na ja, es sind natürlich in sehr vielen Fällen traumatisierte Personen. Ich denke, dass der ganze Krieg sehr viele Leben zerstört hat, natürlich vor allem auf muslimischer Seite. Diese Hoffnungslosigkeit, auch die Perspektivlosigkeit, damals jedenfalls, war schon sehr beeindruckend und auch sehr schwierig, um damit irgendwie, ja, umzugehen.
Rossius: Ist das der Grund, warum Sie selbst dann eine ganze Zeit lang dieses Thema haben ruhen lassen?
Duijzings: Ja, ja. Also ich habe mich sehr intensiv mit diesem Thema beschäftigt, so ab 1997 bis 2002, als unser Bericht veröffentlicht worden ist, das hat damals auch zum Rücktritt der holländischen Regierung geführt, und ich habe dann ab 2002 noch versucht, mich mit diesem Thema zu beschäftigen, also vor allem die Art und Weise, wie die Geschehnisse erinnert werden in Bosnien, vor allem in Bosnien lokal. Aber ich fand es sehr schwierig, um mich noch mit diesem Thema zu beschäftigen, und ich habe dann auch gesagt: Es ist besser, mich einige Jahre nicht damit zu beschäftigen. Auch ... Ich hatte vor, immer noch mal ein Buch über Srebrenica, über das Massaker zu schreiben. Ich habe jetzt also wieder angefangen, mich damit zu beschäftigen. Der wichtigste Grund, dass es jetzt ist, hat damit zu tun, dass die Kriegsverbrecherprozesse am Tribunal in Den Haag irgendwie zum Ende laufen jetzt, und die Materialien dort verfügbar geworden sind.
Rossius: Wie beurteilen Sie denn die Aufarbeitung vor Gericht?
Die Prozesse geben klaren Einblick, wie dieses Massaker organisiert worden ist
Duijzings: Ja, also was das Kriegstribunal in Den Haag macht, ist natürlich, sich vor allem konzentrieren auf die Schuld einiger Leute, die Entscheidungen getroffen haben und Teilnehmer waren in diesen Kriegsverbrechen. Natürlich geht es hier um individuelle Personen, ungefähr 20 Personen sind da angeklagt worden. Einige sind für Genozid, wie heißt es, ...
Rossius: ... verurteilt worden.
Duijzings: ... verurteilt worden, ja. Und ich selber finde diese Prozesse sehr wichtig, auch weil es dazu führt, dass wir einen sehr deutlichen, klaren Einblick bekommen haben in wie dieses Massaker organisiert worden ist.
Rossius: Welche Akzeptanz haben denn die Urteile bei den Bosniern einerseits, bei den Serben andererseits? Was haben Sie da beobachtet?
Duijzings: Ja, das Kriegstribunal in Den Haag hat natürlich nicht so einen sehr guten Ruf in der Region. Ich glaube, das hat sehr viel damit zu tun, dass Den Haag ziemlich weit entfernt ist von Bosnien, und auch natürlich, weil es nur sehr bestimmte Personen selektiert hat, das Tribunal, hat es den Eindruck geweckt, dass es selektiv ist und vielleicht auch parteiisch ist. Und das ist natürlich ein Vorwurf, der sehr leicht zu machen ist, wenn man nur bestimmte Personen anklagt. Und im Falle Srebrenica sind natürlich vor allem die serbischen Täter des Massakers angeklagt worden, und der einzige Muslim, der in Den Haag angeklagt wurde, Naser Orić, der den Widerstand gegen die Serben organisiert hatte, der ist in zweiter Instanz freigesprochen worden. Also die Serben haben so den Eindruck, dass das Tribunal wirklich ein Tribunal gegen die serbische Seite geworden ist, ja.
Rossius: Herr Duijzings, zum Schluss: Wie präsent ist Srebrenica noch in Ihrem eigenen Heimatland, in den Niederlanden?
Debatte um das Ausbleiben der angeforderten Luftunterstützung
Duijzings: Also nach unserem Bericht, würde ich sagen – das ist damals in 2002 veröffentlicht worden –, hat es ziemlich lange doch eine relative Ruhe gegeben, glaube ich. Das war dieser Effekt unseres Berichts, dass da doch die Diskussion nicht sehr gut geführt worden ist, ist meine eigene Meinung. Aber vor zwei Wochen, hat es wieder neue Informationen gegeben über die Rolle von Frankreich, England und den Vereinigten Staaten. Als Srebrenica fiel, hat der holländische Kommandant Luftangriffe angeordnet oder, wie sagt man es, angefragt, und die sind damals nicht ...
Rossius: ... nicht erfolgt.
Duijzings: ... ja, nicht erfolgt. Und jetzt sieht es so danach aus, dass es ein geheimes Verständnis oder Einverständnis gab zwischen diesen drei Großmächten, dass man das nicht machen würde, also die Holländer irgendwie an ihrem Los so gar nicht unterstützt hat bei der Verteidigung der Enklave. Ich nenne das nur, weil es immer wieder neue Informationen gibt, die die Diskussion und auch die peinliche Erinnerung immer wieder an die Oberfläche bringen.
Rossius: Die Aufklärung ist also noch nicht abgeschlossen, auch 20 Jahre nach dem Massaker von Srebrenica nicht. Ger Duijzings war das, Professor für Sozialanthropologe an der Uni Regensburg. Vielen Dank!
Duijzings: Mit Vergnügen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema