Masse Mensch und Spaßgesellschaft

Von Josef Schmid · 04.08.2010
Sie nennen sich "Raver" – das heißt so viel wie Raser, Schwärmer, Enthusiast. Sie sind ekstatisch Tanzende, Verliebte in ihr selbstproduziertes Massenerlebnis, dabei in einen rhythmisch monotonen Lärm, der nur unter Drogen auszuhalten ist.
Noch nie war die Jugend so massiv aufgetreten und mit sich allein wie auf solchen Paraden. Die Sehnsucht nach Wir-Gefühl und bloße jugendliche Zeitgenossenschaft können nicht der alleinige Grund für den Menschenauflauf sein. In dieser monströsen Exaltation, dieser lustbetonten Leibeigenschaft, muss auch etwas von Schicksalsgenossenschaft mitschwingen – ein unbehagliches Generationenschicksal, das sich auf eine Million junger Leute aufteilt und für die Dauer einer Großveranstaltung angenehm verflüchtigt: Es ist die Generation, für die die Eltern nicht mehr viel tun können.

Sie muss sich neue Wege suchen in einer Welt, die es noch nie gab. Ein Hauch von unsicheren und zeitlich begrenzten Arbeitsplätzen, ein Prekariat weht durch die Unmenge schwankender Gestalten. Es ist die erste Generation einer Industriegesellschaft, in der wachsende Anteile es einmal schlechter haben werden als ihre Eltern. So ist es ihnen nicht zu verdenken, wenn sie das in diesen Zeiten Gebotene freudig ergreifen und zum beliebig wiederholbaren Ritus machen wollen.

Die "Loveparade" war zum Mythos geworden, mit dem sich die Großstädte gerne schmückten. Welcher Oberbürgermeister samt Stadtrat würde da nicht zugreifen, wenn es gilt, Massen junger Menschen anzulocken und sie fröhlich tanzend, leicht bekleidet und sonnenbeschienen über eine Verkehrsader zu schicken, um sich für diese Stunden als Nabel der Welt zu fühlen.

Die einstige Metropole der Zweiten Industriellen Revolution, noch in Strukturwandelsnöten steckend, wird im Massenspektakel eine Chance gesehen haben, sich damit ein Glanzlicht aufzusetzen. Es ist in Zeiten der Europäisierung und Globalisierung nicht einfach, Aufmerksamkeit zu erregen, der Konkurrenz und der Landeshauptstadt zu imponieren. Es gibt kein Event von internationaler Tragweite, das nicht auch als Werbeträger und Image-Kampagne für Stadt und Region genutzt werden will. Es ist unwiderstehlich, inmitten einer alternden Gesellschaft mit Jugendschwund sich ein jugendliches, zukunftsträchtiges Image zuzulegen. Da werden Sicherheitsberater und Bedenkensträger bald zum Spielverderber.

Nutzen wir daher die Gelegenheit zur eigenen Gewissenserforschung. Wir stehen als Europäer in einer langen Ahnenreihe von "Brot und Spielen". Hätte ein römischer Kaiser, immerhin der Herr der Welt, einen Circus Maximus wegen Sicherheitsmängeln geschlossen, er hätte das weder politisch noch körperlich überlebt. Zweitausend Jahre später sieht sich ein Stadtrat in ähnlichem Dilemma, wenn er die Abhaltung einer inzwischen entgrenzten Massenveranstaltung zum Gütesiegel seiner Stadt machen will, genauso wie die Ausweisung von Gewerbeflächen und günstige Steuersätze.

Doch hier wurde eben eine Rechnung ohne den Wirt gemacht; es ist die undirigierbare Masse von mehr als einer Million Menschen, die in ihrem Treiben durch nichts mehr aufzuhalten ist und denen gar nicht mehr mitgeteilt werden kann, dass sich Tote unter ihnen befinden.

Masse lässt sich nur durch Masse zwingen, heißt es im "Faust"; und der Nobelpreisträger Canetti sagt, Masse wäre nur zu bändigen über Wachstum und Wiederholung. Nachdem wir sie nicht weiter anwachsen lassen können und vor Wiederholung gewarnt sind, wollen wir ihrem Zerfall mit tiefer Erleichterung zusehen.


Josef Schmid, Bevölkerungswissenschaftler und Soziologe, zählt zu den profiliertesten Wissenschaftlern auf seinem Gebiet. Geboren 1937 in Linz, Österreich, studierte er Volkswirtschaft sowie Soziologie, Philosophie und Psychologie und hatte von 1980 bis 2007 den Lehrstuhl für Bevölkerungswissenschaft an der Universität Bamberg inne. Hauptarbeitsgebiete sind Bevölkerungsprobleme der modernen Welt und der Entwicklungsländer, kulturelle Evolution und Systemökologie. Josef Schmid ist Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Humanökologie (DGH).
Veröffentlichungen u.a.: Bevölkerung und Soziale Entwicklung (1984), Bevölkerungsveränderungen – Eine Revolution auf leisen Sohlen (1984), Das verlorene Gleichgewicht – Eine Kulturökologie der Gegenwart (1992); Sozialprognose – Die Belastung der nachwachsenden Generation (2000; mit A. Heigl und R. Mai); Bevölkerungswissenschaft im Werden (2007; mit P. Henssler), über Denkschulen in der deutschen Bevölkerungs- und Industriegeschichte von Friedrich List bis Ludwig Erhard.
Josef Schmid
Josef Schmid© Maurer-Hörsch
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