Massenproteste in Chile

Zehntausende fordern Rücktritt des Präsidenten

05:52 Minuten
Demonstranten füllen die Straßen der chilenischen Stadt Viña del Mar.
Auch in Viña del Mar gingen Zehntausende auf die Strasse. © imago / Andres Pina / Aton Chile
Von Sophia Boddenberg |
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Die Proteste in Chile gehen weiter, obwohl Präsident Sebastián Piñera jeden Tag neue Zugeständnisse macht. Nur die eine Forderung, die alle Protestierenden eint, lehnt er ab: seinen eigenen Rücktritt.
"Ich bekomme eine sehr niedrige Rente. Ich hoffe, dass die Dinge sich ändern werden. Wenn ich nicht bei meiner Tochter wohnen würde, könnte ich gar nicht überleben."
Alicia Gonzáles ist 83 Jahre alt. Sie erhält monatlich eine Rente von 103.000 chilenischen Pesos, umgerechnet etwa 120 Euro. Das ist die "Pensión de la solidaridad", die Mindestrente in Chile, die diejenigen erhalten, die keine private Altersvorsorge haben. In Chile gibt es keine staatliche Rentenversicherung. Man zahlt in private Fonds ein, die entsprechende Gebühren verlangen und das Geld anlegen – Risiko inklusive. Militär und Polizei haben eine eigene Rentenversicherung – ein Relikt aus der Pinochet-Diktatur.

Von der Rente kann keiner leben

Die Reform des Rentensystems ist eine der Forderungen der Protestwelle, die das Land seit über einer Woche erfasst hat. Vor allem Frauen wie Alicia Gónzales sind von Altersarmut betroffen.
"Ich habe studiert aber nie gearbeitet. Mein Ehemann hat mir nicht erlaubt zu arbeiten. Deshalb habe ich mich der Kinderziehung und dem Haushalt gewidmet."
Porträt der chilenischen Rentnerin Alicia Gonzales
Alicia Gonzales muss mit einer kleinen Mindestrente auskommen. Gut leben kann man davon nicht.© Sophia Boddenberg
Präsident Piñera hat angekündigt, die Mindestrente im Rahmen der neuen Sozialreformen um 20.000 Pesos, umgerechnet etwa 25 Euro, zu erhöhen. Eine grundlegende Reform ist jedoch nicht geplant.
"Das ist doch ein Scherz. Das ist, als würden sie sich über die Leute lustig machen. Eine Lösung ist das nicht. Ich bin mit den Protesten einverstanden. Damit die Leute an der Regierung sich bewusst werden, dass wir einen Wandel brauchen. Nach der Krise kommt der Wandel."

Jugendliche sind die treibende Kraft

"Ich habe fast jeden Tag protestiert und gesungen. Ich bin Sänger und mit meiner Musik drücke ich mich auch politisch aus."
Larry Ruiz ist 18 Jahre alt. Es waren Jugendliche seines Alters, die die Protestwelle ausgelöst haben. Anfang Oktober riefen sie zum kollektiven Schwarzfahren auf – eine Protestaktion gegen eine Preiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr. Es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, wie sich herausstellte, denn binnen Kurzem schlossen sich Chilenen aller Altersgruppen den Jugendlichen an. Chile ist eines der Länder mit der größten sozialen Ungleichheit der Welt. Die Wut dagegen hat sich angestaut, auch bei Larry Ruiz.
"Ich bin der Meinung, dass es in Chile eine sehr gut organisierte Mafia gibt. Es sind nicht alle Politiker, aber viele Politiker. Es sind nicht alle Unternehmer, aber viele Unternehmer. Es sind nicht alle Polizisten, aber viele Polizisten. Es sind nicht alle Soldaten, aber viele Soldaten. Sie haben ein Land geschaffen, dass nur ihnen Vorteile bringt. Chile hat das gemerkt und jetzt können sie sich nicht mehr verstecken."
Während der Proteste sind bisher mindestens 19 Menschen ums Leben gekommen. Vier von ihnen wurden von Polizisten oder Soldaten erschossen. Es ist das erste Mal seit dem Ende der Militärdiktatur, dass die chilenische Regierung den Ausnahmezustand ausgerufen hat und Soldaten mit Panzerwagen auf den Straßen patrouillieren. Militär und Polizei treten die Menschenrechte mit Füßen, so der Vorwurf der Demonstranten, der auch vom Nationalen Institut für Menschenrechte erhoben wird. Auch Ruiz wurde während eines Protests von einem Polizisten in die Schulter und in den Hals geschossen.
"Die Person, die auf mich geschossen hat, hat mehrmals abgedrückt. Ich bin ausgewichen, sonst hätte er mich im Auge getroffen. Sie schießen nicht auf den Körper, sondern aufs Gesicht."

Wer kein Geld hat, bekommt keine Bildung

Macarena Ramirez Nahueñir ist 32 Jahre alt gehört zum Volk der Mapuche, dem größten indigenen Volk Chiles. Auch sie ist jeden Tag auf der Straße.
"Wir protestieren gegen den Missbrauch gegenüber dem chilenischen Volk und gegenüber dem Volk der Mapuche in unserem Land Wallmapu. Wir fordern das Ende der Militarisierung von Wallmapu. Jetzt versteht ganz Chile, wie wir Mapuche behandelt werden. Jetzt sind überall Panzerwagen, wie bei uns. In Wallmapu atmen die Kinder jeden Tag Tränengas ein und Panzerwagen stehen vor ihren Schulen."
Die Chilenin Macarena Ramirez Nahueñir während der Demonstrationen
Demonstriert gegen Korruption: Macarena Ramirez Nahueñir.© Sophia Boddenberg
Bei den Protestmärschen in Chiles Hauptstadt Santiago werden nicht nur chilenischen Nationalflaggen geschwenkt, sondern auch Mapuche-Flaggen. Ramirez ist Grundschullehrerin und arbeitet in einer öffentlichen Schule in einer "Población", einem Armenviertel in Santiago.
"Die Kinder in der Población haben nicht die gleichen Möglichkeiten wie die Kinder aus den Reichenvierteln. Ich arbeite in einer Población. Ich bin Mapuche. Deshalb bin ich doppelt wütend über alles, was in Chile passiert."
Das Bildungssystem in Chile ist – wie die Grundversorgung allgemein – privatisiert. Wer kein Geld hat, bekommt keinen Zugang zu den privaten Schulen und Universitäten. Ein Platz an einem Gymnasium kann bis zu 800 Euro im Monat kosten. Deshalb kann sich nur eine kleine Elite eine gute Ausbildung für die Kinder leisten. Die öffentlichen Schulen sind völlig vernachlässigt und auch wenn Präsident Piñera jetzt Besserung verspricht, glaubt ihm Ramirez nicht. Es ist zu spät. Sie fordert – wie die meisten der Demonstranten – eine radikale Lösung.
"Piñera und Chadwick, der Innenminister, sollen zurücktreten. Wir brauchen Lösungen, die die Probleme an der Wurzel packen und nicht nur an der Oberfläche."
Heute kommt ein Untersuchungsteam der Vereinten Nationen nach Chile, um die Lage der Menschrechte zu überprüfen. Auch wenn die Regierung den Ausnahmezustand aufgehoben hat, fordern Menschenrechtsorganisationen eine Reaktion auf die vielen Verletzten durch Polizisten und Soldaten.
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