Massenpsychologie der Krise

Im Solidaritätsrausch

Zusammenhaltende ausgestreckte Hände die sich berühren.
Eine Krise kann im Guten wie im Bösen gewaltige Wirkung entfalten sagt Michael Andrick © imago / Ikon Images / Donna Grethen
Gedanken von Michael Andrick |
In Krisen wächst die Solidarität - das war zu Beginn der Pandemie und dem des Ukrainekrieges zu beobachten. Eigentlich eine gute Sache, aber massenpsychologisch gesehen hat die Krisensolidarität auch dunkle Seiten, findet Philosoph Michael Andrick.
Trotz immer noch guter Kaufkraft herrscht im alten Westen nicht gerade Daseins-Euphorie. Abends schalten wir den Bildschirm ein, um nach zu viel Arbeit oder Müßiggang „abzuschalten“. Als Gesellschaft sind wir unzufrieden im Überfluss, aber es fällt schwer, das auszudrücken; es fühlt sich undankbar an. Dennoch: Unerfüllte und ruhelose Menschen entwickeln Sehnsucht nach Sinn, nach haltgebender Gemeinschaft und nach einem Ventil für aufgestaute Aggressionen.
Der Begründer der Massenpsychologie Gustave LeBon nannte 1895 die unkoordinierte, aber allgegenwärtige Regungen unter der Oberfläche das „unbewusste Wirken der Massen“. Es findet ein Bedürfnisstau statt, emotionaler Druck baut sich auf.
Bricht in dieser Lage eine Krise aus, so kann das im Guten wie im Bösen gewaltige Wirkung entfalten. Der belgische Psychologe Mattias Desmet hat dies als Massenformierung beschrieben: Man nehme eine Gruppe von Menschen, die stark von Vereinzelung, Sinnarmut, Angst und latenter Aggression betroffen ist. Dieser Gruppe verkünde man nun, dass eine Bedrohung eingetreten sei, deren Überwindung entschiedenes gemeinschaftliches Handeln erfordere.
Sofort fühlen sich viele existenziell erleichtert und dankbar. Die Menschen werden „von einem gemeinsamen Narrativ ergriffen, das sie in einem heroischen Kampf gegen ein Objekt der Angst vereint“, erklärt Desmet. Waren sie zuvor vereinzelt, sind sie nun Teil eines Kollektivs mit klarem Ziel; ihre „frei flottierende Angst“ ist jetzt an ein Objekt gebunden, für oder gegen das man kämpfen kann.

Das große Wir für ein gemeinsames Ziel

So wurde bei Kriegsausbruch in der Ukraine genau wie vorher in Sachen „Corona“ umgehend ein großes Wir mobilisiert, das dann in einen regelrechten Solidaritätsrausch geraten konnte. Ständig wurde an eine angeblich gemeinsame Verantwortung für den „Kampf gegen das Virus“ appelliert und noch die absurdesten Maßnahmen wurden eifrig befolgt. Viele nahmen Ukraine-Flüchtlinge bei sich zu Hause auf und das gewaltige Spendenaufkommen konnte zeitweise kaum verteilt werden.
Psychologisch sind solche Prozesse gefahrvoll, wie Desmet darlegt: Einerseits engt sich die Wahrnehmung hier auf das Objekt der Angst und seine Behandlung ein. Es gibt zum Beispiel nur noch „die Zahlen“ und die „Wellen“, die „gebrochen“ werden müssen. Und es gibt immer neue, angeblich alternativlose „Maßnahmen“ die alle, auch Wehrlose wie Alte am Lebensende und kleine Kinder, strikt einhalten müssen, „um uns nicht alle zu gefährden“.
Dass es Senioren gab, die einsam sterben mussten, weil man sie vor einem Infekt „schützen“ wollte, und dass viele Kinder seelisch geschädigt wurden kommt in der Wahrnehmung einer Masse im sinnstiftenden „Kampf gegen das Virus“ nicht an.

„Außenstehende“ und „Sozialschädlinge“

Wer bei der kollektiven Gefahrenabwehr nicht mitmachen will ist zudem laut Desmet das perfekte Ziel für lang unterdrückte Aggression. Demonstranten und Impfunwillige nennt zum Beispiel Christian Vooren in der Zeit „die Außenstehenden“ und schreibt ihnen pauschal „Antisemitismus und Rechtsextremismus, allgemeine Wissenschafts- und Verfassungsfeindlichkeit“ zu. „Impfen ist Liebe“ sagt die Kirche, Impfunwillige sind „gefährliche Sozialschädlinge“ sagt Rainer Stinner (FDP). Tobias Hans von der CDU erklärte: „Ihr seid jetzt raus aus dem sozialen Leben.“ Ein faktisches Berufsverbot für Ungeimpfte gilt in der Bundeswehr immer noch.
Mit Bezug auf Hannah Arendts Werk „Ursprünge und Elemente totalitärer Herrschaft“ zeigt Desmet, wie Massenformierung die Grundlage totalitärer Systeme werden kann. Die tief empfundene Erleichterung im Notstand war der Beginn schlimmer Albträume der Menschheitsgeschichte. Erwachen wir gerade aus einem solchen Albtraum?

Michael Andrick ist Philosoph und Kolumnist der "Berliner Zeitung". Sein letztes Buch Erfolgsleere (Herder 2020) ist eine Gegenwartsdiagnose der Industriegesellschaft, die eine Erklärung für kritiklosen Konformismus bietet.

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