Overtourism
Mit Plakaten wie „Die Kanarischen Inseln sind nicht käuflich“ protestierten zahlreiche Menschen unter anderem in Arona auf Teneriffa gegen das ihrer Meinung nach ungerechte und nicht nachhaltige Tourismusgeschäft. © IMAGO / Europa Press / Estefania Briganty
Von der Besucherwalze erdrückt
Immer öfter protestieren Menschen etwa auf den Kanaren gegen einen ihrer Ansicht nach ausufernden Tourismus. Venedig verlangt mittlerweile Eintritt, Pompeji führt ein Besucherlimit ein, Japan erhebt Wegegebühren. Was steckt hinter dem Problem Overtourism?
Zu Tausenden sind am 20. Oktober 2024 auf den Kanarischen Inseln Demonstranten durch die Straßen gezogen. Die Proteste fanden auf mehreren Inseln wie Gran Canaria, Teneriffa und Lanzarote statt, begleitet von Slogans wie „Wir sind Ausländer in unserem Land“ oder "Die Kanarischen Inseln sind nicht käuflich".
Die protestierenden Einwohner kritisierten das „ungerechte und nicht nachhaltige“ Entwicklungsmodell im Tourismussektor. Bereits im April demonstrierten über 55.000 Menschen auf den Kanaren, dem spanischen Festland und Mallorca gegen den Massentourismus.
Steigende Mieten, Lärm und Verkehrsprobleme lassen den Unmut auch anderswo wachsen, zum Beispiel in Spanien, Österreich, Tschechien, Schweden oder Japan. Die Crux: Der Tourismus ist oft eine zentrale Einnahmequelle. Lässt sich ein richtiges Maß finden – und ab wann spricht man von „Overtourism“?
Ist Overtourism gleich Massentourismus?
„Massentourismus“ und „Overtourism“ werden gerne in einem Atemzug genannt. Die Begriffe sollten aber nicht synonym verwendet werden, erklärt Pascal Mandelartz, Professor für Tourismuswirtschaft an der IU Internationale Hochschule. Massentourismus sei ein „medialer Begriff“ und negativ besetzt. Unter bestimmten Voraussetzungen könnten „Massen“ sogar erwünscht sein, gibt er zu bedenken.
In der Tourismuswissenschaft spreche man lieber vom „Overtourism“. Dabei entstehe eine Ballung von Touristen, „die die Kapazitätsgrenzen einer Destination sprengt und quasi die Belastbarkeit übersteigt“. Heißt: Ab einer gewissen Anzahl von Menschen ist eine Stadt oder eine Region überfordert.
Verschiedene Tragfähigkeitsgrenzen
„Wir sprechen von Tragfähigkeitsgrenzen, die überschritten werden“ erklärt Jürgen Schmude, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Tourismuswissenschaft. Seien dies vor einiger Zeit eher ökologische oder infrastrukturelle Grenzen gewesen, habe sich das auf die ökonomische Tragfähigkeit verschoben, auf die die Einheimischen zunehmend sensibel reagierten. „Die lokale Bevölkerung leidet ökonomisch unter dem Tourismus, zum Beispiel durch die Entziehung von Wohnraum.“
Der "gemeinsame Nenner" all dieser Touristen, die Städte wie Barcelona, Amsterdam, Mailand, Budapest, Reykjavik oder Lissabon besuchen, seien „ikonische Destinationen“, die man auf einer „Lebensabhakliste“ stehen habe, sagt Pascal Mandelartz.
Zum anderen verfügten die betroffenen Städte und Regionen oft über Weltkulturerbe, und sie hätten einen Flughafen oder einen Hafen für Kreuzfahrtschiffe in der Nähe, berichtet Jeroen Klijs von der niederländischen Breda University. "Das sind alles Faktoren, die dazu beitragen, dass die Situation brenzlig werden kann.“
Anwohner werden verdrängt
Auch Popkultur kann Anziehungskraft entfalten: Dubrovnik, die kroatische Hafenstadt, kann sich zum Beispiel vor Touristen kaum noch retten, seit die TV-Serie "Games of Thrones" dort gedreht wurde.
Städte verändern sich dadurch: Aus Wohnungen für Einheimische werden Übernachtungsmöglichkeiten für Touristen, die fortan leicht online buchbar sind und den Schritt zur Reise noch vereinfachen. Auch Geschäfte und öffentliche Einrichtungen werden nach touristischen Bedürfnissen ausgerichtet.
Die Einwohner dieser Städte leiden unter dem Ansturm. Die Mieten steigen, weil sich mit Übernachtungen von Touristen mehr verdienen lässt. In Venedig haben über die Jahre viele Menschen die Altstadt verlassen und sind ins Umland gezogen.
Neben Städten leiden auch ländliche Regionen und kleine Orte unter zu vielen Touristen. Ein Beispiel ist Hallstatt in Österreich, das besonders bei Besuchern aus Asien beliebt ist. Es gibt von dem Städtchen sogar eine Kopie in China.
Was tun betroffene Orte gegen Overtourism?
Viele italienische Städte kämpfen mit Overtourism, so auch die antike Stadt Pompeji. Seit dem 15. November gilt hier ein Besucherlimit von 20.000 Personen pro Tag, um den Tourismus besser zu steuern und das wertvolle Kulturerbe zu schützen.
Die Lagunenstadt Venedig hat sich eine andere Strategie einfallen lassen: Als erste Stadt der Welt verlangt Venedig seit diesem Jahr an manchen Tagen Eintritt von Kurzbesuchern: bislang fünf Euro. Künftig wird es bis zu doppelt so teuer.
Die Besucher zur Kasse bitten will auch Meit Fohlin, Vorsitzende des Regionalvorstands auf der schwedischen Ostseeinsel Gotland. In den Sommerwochen besuchen 900.000 Touristen die Insel, deren Infrastruktur nur für 23.000 Einwohner ausgelegt ist. Fohlin schlägt deshalb eine Steuer oder eine Kurtaxe vor, wie sie andere Länder erheben, was aber bisher nach schwedischem Recht nicht möglich ist.
Online-Vermieter im Visier
Ein weiterer Weg, den betroffene Städte einschlagen, ist das Angebot von Ferienwohnungen einzuschränken. In Barcelona sollen Vermietungen über Airbnb & Co. nach 2028 komplett verboten sein. In Amsterdam dürfen Wohnungen nur noch an 30 Tagen im Jahr auf diese Weise vermietet werden, sonst ist eine Lizenz fällig. Mit Blick auf Prag hat die tschechische Regierung im Juli eine weitere Verschärfung der Regeln auf den Weg gebracht.
Am Beispiel Barcelona jedoch zeigt sich, dass diese Maßnahme begrenzte Effekte hat. 2015 wurde eine Obergrenze von 170.000 Betten eingeführt – gültig vom Jugendherbergsbett bis zum Luxus-Ferienappartement. Die Preise sind gestiegen, aber das Wachstum ebbte nicht ab, sondern verlagerte sich von der Stadt in die Vororte, die nicht an die Grenze gebunden sind.
„Das macht das Umsteuern so kompliziert“, erklärt der Anthropologe Jose Mansilla von der Freien Universität Barcelona, „weil es unterschiedliche territoriale und institutionelle Interessen gibt.“ Tourismus sei per se nicht schlecht, meint Mansilla, aber er könne „zum Monster werden, wenn wir ihn nicht regulieren“.
Kein Alkohol auf offener Straße mehr am Ballermann
Zu einer neuen Maßnahme gegen Auswüchse des Party-Tourismus greift die spanische Urlaubsinsel Mallorca. Auf offener Straße und am Strand darf kein Alkohol mehr getrunken werden. Das Verbot gilt für die auch bei deutschen Urlaubern beliebte Playa de Palma mit dem sogenannten Ballermann und für weitere Feier-Zonen auf Mallorca sowie auf der Nachbarinsel Ibiza.
Kritiker befürchten jedoch, dass sich durch die Maßnahme kaum etwas ändern wird. Es gebe zu viele Schlupflöcher, um das Verbot zu umgehen, und zu wenig Polizeikontrollen.
Sichtschutz und Gebühren in Japan
Und auch Japan ergreift verschiedene Maßnahmen gegen Overtourism, indem es an beliebten Reisezielen wie etwa dem Mount Fuji Zugangsbeschränkungen, Wegegebühren und Besucherlimits einführt. In stark besuchten Gebieten wie Tokios Shibuya-Bezirk wurden Alkoholverbote und spezielle Regelungen bei Events wie Halloween umgesetzt, um Überfüllung und Chaos zu verhindern. In einigen Regionen werden auch Barrieren oder Sichtschutzwände eingesetzt, um sensible Orte zu schützen und den Ansturm zu verringern.
Was müsste sich noch ändern, um Overtourism einzudämmen?
Ein Stück weit haben es die touristischen Hotspots heute mit den Geistern zu tun, die sie selbst einmal riefen. Der „Konkurrenzkampf“ untereinander habe dazu geführt, dass in den vergangenen Jahrzehnten Marketingmaßnahmen intensiviert worden seien, „gerade für diese ikonischen Orte, die dann jeder im Kopf hat“, erklärt Pascal Mandelartz. Die Werbung habe zu gut funktioniert. So habe man versäumt, den Blick auch auf andere Regionen zu richten.
Überlaufenen Großstädten wie Venedig, Barcelona oder Amsterdam, wo als Maßnahme gegen den Ansturm zum Beispiel Führungen durch das berühmte Rotlichtviertel verboten wurden, rät der Tourismusexperte, die klassische Werbung zu reduzieren und andere Regionen mit in den Fokus zu nehmen. Es gehe darum, den „Facettenreichtum“ einer Region zu präsentieren.
Einheimische und Reisende auch selbst gefordert
Zudem plädiert er dafür, auch die einheimische Bevölkerung mehr in Entscheidungsprozesse einzubinden. So könnte dies über Bürgerplattformen über die Infrastruktur mitentscheiden - ob es zum Beispiel in der Innenstadt einen weiteren Souvenirshop geben soll oder nicht.
Das Problem an den beliebten Reisezielen sei auch, dass alle immer an die gleichen Plätze wollen, sagt Pascal Mandelartz. „In Rom wollen alle zum Kolosseum, in Venedig wollen alle zum Markusplatz.“ Vielleicht sollten Touristen auch einfach mal in weniger bekannte und erschlossene Stadtteile gehen. Diese seien authentischer und man treffe dort auch Einheimische, sagt der Tourismusexperte. Das sei zum Beispiel schöner, als sich drei Stunden in eine Schlange fürs Kolosseum zu stellen.
Welche Erkenntnis hat Corona gebracht?
Bei aller Kritik am Overtourism: Touristen bringen auch viel Geld in eine Region, sie sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Im Falle von Mallorca macht der Tourismus etwa 45 Prozent der Wirtschaftsleistung aus. Pascal Mandelartz spricht sogar von einer „fast schon symbiotischen Beziehung“, die während Corona noch einmal eine andere Facette erhalten habe.
So hätten Regionen wie die spanische Costa de Sol, wo Touristen nur noch „Feindbild“ gewesen seien, erkannt, dass die Wirtschaft ohne Tourismus einbreche. Auch in Städten wie Venedig könne man ohne Touristen kaum noch eine Versorgung der Bevölkerung gewährleisten, sagt er.
Tourismus wird nicht grundsätzlich abgelehnt
Auf Fuerteventura etwa seien die Einheimischen nicht grundsätzlich gegen Tourismus, berichtet Korrespondent Thorsten Philipps. „Sie freuen sich über Touristen, wenn die hier nicht gerade ihren Müll in das Meer schmeißen oder am Strand lassen.“ Die Menschen lebten von ihnen, denn außer der Fischerei und Ziegen gebe es nichts auf der Insel.
Es gehe daher nicht um das Ob, sondern um das Wie. So leide die einheimische Bevölkerung darunter, dass sich reiche Menschen aus Europa Häuser kauften und dadurch die Immobilienpreise stiegen. Personen mit einem Durchschnittsgehalt von 1100 Euro im Monat könnten sich eine gestiegene Miete von 400 auf 800 Euro für eine Zweizimmerwohnung nicht mehr leisten.
jad, jk, ema