Overtourism

Von der Besucherwalze erdrückt

An einem sonnigen Tag im April ist der Stadtstrand von Barcelona voller Menschen
Kaum noch Sand frei: Stadtstrand von Barcelona im April 2024. © picture alliance / ZUMAPRESS.com / Jordi Boixareu
23.07.2024
20.000 Menschen demonstrieren in Palma de Mallorca gegen ausufernden Tourismus. Venedig erhebt inzwischen Eintrittsgeld, und auch in Schweden wird über Gebühren diskutiert. Was hat es mit dem Problem des Overtourism auf sich?
Zu Tausenden ziehen die Demonstranten im Juli durch die Altstadt von Palma und machen ihrem Ärger Luft. Aufgerufen hatte die Gruppe „Weniger Tourismus, mehr Leben“, die sich für eine andere Form des Tourismus einsetzt. 1,2 Millionen Einheimische sehen sich auf den Balearen, deren Hauptinsel Mallorca ist, rund 18 Millionen Besuchern pro Jahr gegenüber, davon 4,6 Millionen aus Deutschland.
Steigende Mieten und Lebenshaltungskosten sowie Lärm und Verkehrsprobleme lassen den Unmut auch anderswo wachsen: Demos und Diskussionen gibt es in beliebten Destinationen in Spanien, Österreich, Tschechien oder Schweden. Die Crux: der Tourismus ist dort meist auch eine der wichtigsten Einnahmequellen. Lässt sich also überhaupt ein richtiges Maß finden? Und ab wann spricht man von „Overtourism“?

Ist Overtourism gleich Massentourismus?

„Massentourismus“ und „Overtourism“ werden gerne in einem Atemzug genannt. Die Begriffe sollten aber nicht synonym verwendet werden, erklärt Pascal Mandelartz, Professor für Tourismuswirtschaft an der IU Internationale Hochschule. Massentourismus sei ein „medialer Begriff“ und negativ besetzt. Unter bestimmten Voraussetzungen könnten „Massen“ sogar erwünscht sein, gibt er zu bedenken.
In der Tourismuswissenschaft spreche man lieber vom „Overtourism“. Dabei entstehe eine Ballung von Touristen, „die die Kapazitätsgrenzen einer Destination sprengt und quasi die Belastbarkeit übersteigt“. Heißt: Ab einer gewissen Anzahl von Menschen ist eine Stadt oder eine Region überfordert.

Verschiedene Tragfähigkeitsgrenzen

„Wir sprechen von Tragfähigkeitsgrenzen, die überschritten werden“ erklärt Jürgen Schmude, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Tourismuswissenschaft. Seien dies vor einiger Zeit eher ökologische oder infrastrukturelle Grenzen gewesen, habe sich das auf die ökonomische Tragfähigkeit verschoben, auf die die Einheimischen zunehmend sensibel reagierten. „Die lokale Bevölkerung leidet ökonomisch unter dem Tourismus, zum Beispiel durch die Entziehung von Wohnraum.“
Der "gemeinsame Nenner" all dieser Touristen, die Städte wie Barcelona, Amsterdam, Mailand, Budapest, Reykjavik oder Lissabon besuchen, seien „ikonische Destinationen“, die man auf einer „Lebensabhakliste“ stehen habe, sagt Pascal Mandelartz.
Zum anderen verfügten die betroffenen Städte und Regionen oft über Weltkulturerbe, und sie hätten einen Flughafen oder einen Hafen für Kreuzfahrtschiffe in der Nähe, berichtet Jeroen Klijs von der niederländischen Breda University. "Das sind alles Faktoren, die dazu beitragen, dass die Situation brenzlig werden kann.“

Anwohner werden verdrängt

Auch Popkultur kann Anziehungskraft entfalten: Dubrovnik, die kroatische Hafenstadt, kann sich zum Beispiel vor Touristen kaum noch retten, seit die TV-Serie "Games of Thrones" dort gedreht wurde.
Städte verändern sich dadurch: Aus Wohnungen für Einheimische werden Übernachtungsmöglichkeiten für Touristen, die fortan leicht online buchbar sind und den Schritt zur Reise noch vereinfachen. Auch Geschäfte und öffentliche Einrichtungen werden nach touristischen Bedürfnissen ausgerichtet.
Die Einwohnder dieser Städte leiden unter dem Ansturm. Die Mieten steigen, weil sich mit Übernachtungen von Touristen mehr verdienen lässt. In Venedig haben über die Jahre viele Menschen die Altstadt verlassen und sind ins Umland gezogen.
Neben Städten leiden auch ländliche Regionen und kleine Orte unter zu vielen Touristen. Ein Beispiel ist Hallstatt in Österreich, das besonders bei Besuchern aus Asien beliebt ist. Es gibt von dem Städtchen sogar eine Kopie in China.

Was tun betroffene Orte gegen Overtourism?

Venedig hat sein vieldiskutiertes Experiment einer Eintrittsgebühr für Touristen abgeschlossen und wird sie auch in Zukunft beibehalten. Statt fünf Euro wird der Preis an „kritischen Tagen“ sogar auf zehn Euro angehoben. Die Stadt konnte sich im Testzeitraum von 29 Tagen immerhin über Einnahmen von mehr als zwei Millionen Euro freuen. Das Ziel, Menschen von einem Besuch abzuhalten, wurde durch die Gebühr jedoch nicht erreicht.

Redaktionell empfohlener externer Inhalt

Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren.

Die Besucher zur Kasse bitten will auch Meit Fohlin, Vorsitzende des Regionalvorstands auf der schwedischen Ostseeinsel Gotland. Vor allem in den Sommerwochen sind dort 900.000 Touristen zu Gast und nutzen die Infrastruktur, die sonst für lediglich 23.000 Einwohner ausreichen müsste. Fohlin schlägt deshalb eine Steuer oder eine Kurtaxe vor, wie sie andere Länder erheben, was aber bisher nach schwedischem Recht nicht möglich ist.

Online-Vermieter im Visier

Ein weiterer Weg, den betroffene Städte einschlagen, ist das Angebot von Ferienwohnungen einzuschränken. In Barcelona sollen Vermietungen über Airbnb & Co. nach 2028 komplett verboten sein. In Amsterdam dürfen Wohnungen nur noch an 30 Tagen im Jahr auf diese Weise vermietet werden, sonst ist eine Lizenz fällig. Mit Blick auf Prag hat die tschechische Regierung im Juli eine weitere Verschärfung der Regeln auf den Weg gebracht.
Am Beispiel Barcelona jedoch zeigt sich, dass auch diese Maßnahme begrenzte Effekte hat. 2015 wurde eine Obergrenze von 170.000 Betten eingeführt – gültig vom Jugendherbergsbett bis zum Luxus-Ferienappartement. Die Preise sind gestiegen, aber das Wachstum ebbte nicht ab, sondern verlagerte sich von der Stadt in die Vororte, die nicht an die Grenze gebunden sind.
„Das macht das Umsteuern so kompliziert“, erklärt Anthropologe Jose Mansilla von der Freien Universität Barcelona, „weil es unterschiedliche territoriale und institutionelle Interessen gibt.“ Tourismus sei per se nicht schlecht, meint Mansilla, aber er könne „zum Monster werden, wenn wir ihn nicht regulieren“.  

Kein Alkohol auf offener Straße mehr am Ballermann

Zu einer neuen Maßnahme gegen Auswüchse des Party-Tourismus greift die spanische Urlaubsinsel Mallorca. Auf offener Straße und am Strand darf kein Alkohol mehr getrunken werden. Das Verbot gilt für die auch bei deutschen Urlaubern beliebte Playa de Palma mit dem sogenannten Ballermann und für weitere Feier-Zonen auf Mallorca sowie auf der Nachbarinsel Ibiza.
Kritiker befürchten jedoch, dass sich durch die Maßnahme kaum etwas ändern wird. Es gebe zu viele Schlupflöcher, um das Verbot zu umgehen, und zu wenig Polizeikontrollen.

Was müsste sich noch ändern, um Overtourism einzudämmen?

Ein Stück weit haben es die touristischen Hotspots heute mit den Geistern zu tun, die sie selbst einmal riefen. Der „Konkurrenzkampf“ untereinander habe dazu geführt, dass in den vergangenen Jahrzehnten Marketingmaßnahmen intensiviert worden seien, „gerade für diese ikonischen Orte, die dann jeder im Kopf hat“, erklärt Pascal Mandelartz. Die Werbung habe zu gut funktioniert. So habe man versäumt, den Blick auch auf andere Regionen zu richten.
Überlaufenen Großstädten wie Venedig, Barcelona und Amsterdam, wo als Maßnahme gegen den Ansturm zum Beispiel Führungen durch das berühmte Rotlichtviertel verboten wurden, rät der Tourismusexperte, die klassische Werbung zu reduzieren und andere Regionen mit in den Fokus zu nehmen. Es gehe darum, den „Facettenreichtum“ einer Region zu präsentieren.

Einheimische und Reisende auch selbst gefordert

Zudem plädiert er dafür, auch die einheimische Bevölkerung mehr in Entscheidungsprozesse einzubinden. So könnte dies über Bürgerplattformen über die Infrastruktur mitentscheiden - ob es zum Beispiel in der Innenstadt einen weiteren Souvenirshop geben soll oder nicht.
Das Problem an den beliebten Reisezielen sei auch, dass alle immer an die gleichen Plätze wollen, sagt Pascal Mandelartz. „In Rom wollen alle zum Kolosseum, in Venedig wollen alle zum Markusplatz.“ Vielleicht sollten Touristen auch einfach mal in weniger bekannte und erschlossene Stadtteile gehen. Diese seien authentischer und man treffe dort auch Einheimische, sagt der Tourismusexperte. Das sei zum Beispiel schöner, als sich drei Stunden in eine Schlange fürs Kolosseum zu stellen.

Welche Erkenntnis hat Corona gebracht?

Bei aller Kritik am Overtourism: Touristen bringen auch viel Geld in eine Region, sie sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Im Falle von Mallorca macht der Tourismus etwa 45 Prozent der Wirtschaftsleistung aus. Pascal Mandelartz spricht sogar von einer „fast schon symbiotischen Beziehung“, die während Corona noch einmal eine andere Facette erhalten habe.
So hätten Regionen wie die spanische Costa de Sol, wo Touristen nur noch „Feindbild“ gewesen seien, erkannt, dass die Wirtschaft ohne Tourismus einbreche. Auch in Städten wie Venedig könne man ohne Touristen kaum noch eine Versorgung der Bevölkerung gewährleisten, sagt er.

Tourismus wird nicht grundsätzlich abgelehnt

Auch auf den Kanarischen Inseln regt sich Widerstand gegen Tourismus. An einem Wochenende im April gingen Zehntausende Menschen gegen Massentourismus unter dem Motto "Die Kanarischen Inseln haben Grenzen" in den großen Städten der sieben spanischen Urlaubsinseln auf die Straße.
Doch auf Fuerteventura seien die Einheimischen nicht grundsätzlich gegen Tourismus, berichtet Korrespondent Thorsten Philipps. „Sie freuen sich über Touristen, wenn die hier nicht gerade ihren Müll in das Meer schmeißen oder am Strand lassen.“ Die Menschen lebten von ihnen, denn außer der Fischerei und Ziegen gebe es nichts auf der Insel.
Es gehe daher nicht um das Ob, sondern um das Wie. So leide die einheimische Bevölkerung darunter, dass sich reiche Menschen aus Europa Häuser kauften und dadurch die Immobilienpreise stiegen. Personen mit einem Durchschnittsgehalt von 1100 Euro im Monat könnten sich eine gestiegene Miete von 400 auf 800 Euro für eine Zweiraumwohnung nicht mehr leisten.

jad, jk
Mehr zu Massentourismus