Touristen - Segen und Fluch zugleich
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In Bayern werden zum Leidwesen vieler Einheimischer manche Orte von Touristen überrannt, in anderen bleiben die Betten leer. Nun wird im Freistaat über eine Regulierung der Besucherströme debattiert. Auch eine App könnte helfen.
Ein Paar aus dem Süden Kaliforniens, Anfang 50, sitzt nach einem Rundgang durch die Altstadt von Passau auf einer Bank am Donauufer. Die beiden Amerikaner sind mit einem der hier liegenden Kreuzfahrtschiffe unterwegs. Auf ihrer Reise von Budapest nach Prag machen sie vormittags Station in Passau: Kirchen, Andenkenläden, Mittagessen – dann geht es weiter.
Ein paar Schritte donauabwärts steht Walter Landshuter, der Scharfrichter von Passau. Für ihn sind die Kreuzfahrtschiffe beinahe so schlimm wie das Hochwasser, das Passau alle paar Jahre heimsucht.
Der Kabarettist kritisiert den Massentourismus
"Es gibt Wochenenden jetzt im Sommer, wo 20 bis 30 solcher Giganten hier am Ufer anlegen. Tausende von Leuten, die da raus strömen und durch die Gassen geführt werden, das ist eine Horrorvorstellung, wo ich sag: So könnte Passau auch in diesen Fluten untergehen."
Landshuter ist 74 Jahre alt und gründete in jungen Jahren das Scharfrichterhaus, Passaus bekannte Kabarettbühne. Heute richtet er über die Stadtpolitik, die nach seiner Lesart die Interessen der Einheimischen vernachlässigt – zugunsten der Touristen. Wo Schuhgeschäft und Sparkasse dichtmachen, werde die Stadt zur Pappkulisse.
"Ich bin nicht prinzipiell gegen den Tourismus, sondern ich kritisiere den ungezügelten Massentourismus. Wenn es so weitergeht, wird er die Stadt noch mehr beschädigen. Er hat sie insofern schon beschädigt, als die Einheimischen aus diesem Bereich der Altstadt verdrängt worden sind und die Häuser und die Mauern nur mehr dazu da sind, betrachtet zu werden. Es ist kein Leben mehr dahinter."
Passau macht sich für Besucher zurecht
Dafür ist Leben auf dem Rathausplatz: Vier Blasmusiker in Tracht unterhalten die Gäste im Biergarten vor dem Ratskeller. Amerikaner, Chinesen, Italiener – zwei Millionen Besucher hat Passau im Jahr, 40 mal mehr als Einwohner. Nach Bayern kommen im bundesweiten Vergleich die meisten Touristen – ein Fünftel aller Deutschlandurlauber – Tendenz seit Jahren steigend.
Manche finden, nun sei eine Grenze erreicht. Gedränge in den Gassen, verstopfte Zufahrtsstraßen, Umweltzerstörung: Probleme, mit denen Urlaubsziele wie Venedig, Barcelona, Amsterdam oder Mallorca schon länger kämpfen. Jetzt rührt sich auch in Bayern Widerstand:
"Ich erleb', dass das Leben für uns Eingeborene dadurch massiv beeinflusst wird. Es gibt hier in der Altstadt nur ein kleines Lebensmittelgeschäft, es gibt keinen Metzgerladen. Es gibt nur mehr Andenkenläden und kleine Kneipen. Es wirkt sich so aus, dass normale Geschäfte sagen: Da sind ja nur Touristen, was soll ich da."
Souvenirhändler freuen sich über Kundschaft
Christine Bauer führt mit ihrem Sohn ein Andenkengeschäft: Das "Haus der Geschenke" am Passauer Residenzplatz, gegründet 1947. Sie verkaufen T-Shirts, Regenschirme, Bierkrüge, Postkarten, Schokolade.
"Die Kritiker schaden natürlich dem Geschäft. Weil mancher, der noch nicht fest entschlossen ist, Passau zu buchen, der sagt dann: In eine so übervolle Stadt wollen wir nicht, den Massentourismus wollen wir nicht. Aber die Touristen verteilen sich in der ganzen Stadt, also ist das auch nicht störend."
Aus Sicht der Souvenirhändler ist die Saison in Passau kurz: Sieben Monate vom Frühjahr bis zum Herbst, denn im Winter kommen nur wenige Touristen. Christine Bauer ärgert sich über jene, die ihrer Meinung nach die Stadt öffentlich falsch darstellen:
"Das ist nicht der Großteil der Menschen, die in den Gassen wohnen, sondern das sind eigentlich immer die gleichen Nörgler. Viele Städte bemühen sich und freuen sich, wenn die Zahlen immer mehr werden. In Passau hat man das Empfinden, dass sie eigentlich keine mehr wollen."
Ungleiche Verteilung der Touristen in Bayern
Nützt oder schadet der Touristenboom dem Freistaat Bayern? Die Besucherzahl hat sich in 20 Jahren fast verdoppelt: Im zurückliegenden Jahr kamen knapp 40 Millionen Gäste. Hotels und Ferienwohnungen meldeten fast 100 Millionen Übernachtungen. Ein Rekord, zum neunten Mal in Folge. 600.000 Beschäftigte leben laut Wirtschaftsministerium ausschließlich vom Tourismus.
Da ist aber noch eine andere Zahl: Durchschnittlich sind nur 46 Prozent aller Betten belegt – nicht einmal die Hälfte. Es gibt zwar sogenannte Hotspots wie Passau, Bamberg, Regensburg, München, Schloss Neuschwanstein und die Zugspitze. In der Oberpfalz und im Fichtelgebirge hingegen würden sie sich mehr Touristen wünschen.
Alfred Bauer erforscht die Folgen des Fremdenverkehrs, er ist Professor für Tourismusmanagement an der Hochschule Kempten:
"Wir haben flächendeckend in Bayern keinen 'Overtourism', sondern wir haben in manchen Bereichen auch zu wenig Tourismus. Das heißt Bereiche, wo man sicherlich noch etwas entwickeln könnte. Aber ich finde den Begriff 'Overtourism' dahingehend recht wichtig, dass wir auf Problembereiche hinweisen können und sagen: Hier ist irgendetwas am Kokeln."
An den Bedürfnissen der Einheimische vorbei?
Der Begriff "Overtourism" wird in der Branche viel diskutiert. Eine eindeutige Definition gibt es bislang nicht.
"Ich persönlich sehe das Ganze als ein Zuviel an Touristen an einem Ort. Und zwar ein Zuviel dahingehend, dass es Einheimische und Touristen selbst beeinträchtigt, belästigt eventuell."
Overtourism habe viel mit subjektiven Eindrücken zu tun, sagt Tourismusforscher Alfred Bauer. Für die einen gehören belebte Gassen zum Urlaubsgefühl dazu. Andere sind genervt, wenn sie vor einer Sehenswürdigkeit lange anstehen müssen.
"Warum ist Bayern so ein attraktives Urlaubsziel? Weil der Lebensraum attraktiv ist. Aus dem Grund meine ich, dass der Lebensraum attraktiv gehalten werden muss. Das hängt sicherlich auch mit der Befindlichkeit der Einheimischen zusammen. Wenn sich die Einheimischen in ihrem Lebensraum wohlfühlen, dann wird es der Tourist ebenfalls. Vielleicht ist ab und zu etwas weniger sinnvoller als etwas zu viel."
Im Rathaus ist man über die Gäste begeistert
Der barocke Stephansdom ist eines der Wahrzeichen von Passau. Im Inneren der 100 Meter langen, hellen Kirche befindet sich die größte Domorgel der Welt. Auf dem Platz vor der imposanten Westfassade steht Walter Landshuter und tadelt den Kreuzfahrttourismus:
"Eine Möglichkeit wäre, bei der Werbung für diese Stadt mehr auf Kulturtourismus zu setzen. Der Massentourismus – die haben ja keine Zeit. Ich bin sicher, dass viele Touristen aus dem fernen Osten oder aus Amerika, wenn sie zu Hause sind, nicht genau wissen, ob sie jetzt in Passau, Salzburg oder Linz waren."
Mehr als 300.000 Gäste kamen 2018 mit einem der Kreuzfahrtschiffe nach Passau. An manchen Tagen legen die Dampfer in Dreierreihen am Donauufer an. "Sehr erfreulich" finden sie das im Rathaus. Werner Lang vom Wirtschaftsreferat sieht die Schiffe, wenn er aus seinem Bürofenster schaut.
"Ich arbeite seit über 30 Jahren hier im Altstadtbereich im Rathaus. Die Altstadt hat sich insofern verwandelt, dass einfach alles lebendiger geworden ist. Es ist eine Vielzahl neuer Geschäfte, neuer Gastronomiebetriebe hinzugekommen. Hat aber eigentlich alles nur zur Belebung beigetragen, nicht nur für die Touristen, sondern für jede Passauerin und für jeden Passauer."
Die Stadt will sich um Ausgleich bemühen
Trotzdem: Ignorieren wollen sie die Klagen der Einheimischen nicht. Seit einigen Jahren gibt es im Rathaus einen Altstadtbeauftragten, der sich um Beschwerden kümmert und versucht, die Interessen von Händlern, Gastronomen, Hoteliers einerseits und Anwohnern andererseits auszugleichen.
Was indes auch Werner Lang vom Wirtschaftsreferat sagt: In Sachen Kreuzfahrt sei Passau an der Grenze seiner Kapazitäten. In den heißen Sommermonaten reicht die Stromversorgung vom Land her nicht aus, um Klimaanlagen und Küchen an Bord zu betreiben. Also lassen die Schiffe ihre Motoren laufen, Lärm und Abgase wabern um das Dreiflusseck von Donau, Ilz und Inn.
"Wir haben das Touristenmarketing auf ein Minimum zurückgefahren, um die Obergrenze, die wir momentan erreicht haben, einfach nicht noch weiter auszubauen. Da haben wir überhaupt kein Interesse, die Qualität ist uns wichtiger als die Quantität."
Anziehungspunkt Schloss Neuschwanstein
300 Kilometer südwestlich, im Allgäu, ist die Landschaft eine andere. Das Problem ist aber das gleiche: Was tun, wenn Einheimische von den Touristenscharen genervt sind? Der internationale Anziehungspunkt in Bayern ist Schloss Neuschwanstein, wo König Ludwig seiner Leidenschaft für den Historismus frönte. 1,5 Millionen Besucher im Jahr, die zum Teil stundenlang anstehen.
Im Sommer ächzt die Nachbarstadt Füssen unter kilometerlangen Staus und Autos, die alles zuparken. Zusätzlich locken im Allgäu Seen und Berge, sagt der örtliche CSU-Landtagsabgeordnete Klaus Holetschek:
"Wir haben vor kurzem intensiv über das Thema Mountainbiking geredet, weil das durch die E-Mobilität eine neue Dimension kriegt. Heute können Menschen mit einem E-Mountainbike in die Berge klettern, denen es vielleicht bisher nicht möglich war. Eigentlich eine tolle Entwicklung, auch für die Gesundheit und Fitness der Menschen. Aber das bedeutet natürlich auch, dass manche – und Unvernünftige gibt es immer – Wege benutzen, die sie besser nicht benutzen sollten."
Massentourismus ist eine Gefahr für die Natur
Es ist ein schmaler Grat: Viele Touristen kommen wegen der malerischen Natur. Sind aber zu viele Menschen unterwegs, bringen sie genau die in Gefahr. So gab es im Allgäu heftige Proteste gegen eine geplante Skischaukel am Riedberger Horn. Schließlich stoppte die Staatsregierung die Pläne. Der Schutz der Alpen bekam Vorrang, sagt der Abgeordnete Holetschek, der auch Vorsitzender des Tourismusverbandes Allgäu/Bayerisch-Schwaben ist.
"Das Riedberger Horn war tatsächlich eine ganz emotionale Diskussion. Je weiter man von diesem Ort weg war, desto mehr hatten die Menschen das Gefühl, da werden die Alpen zubetoniert und es passiert der große Sündenfall. Es ist ein neues Thema entstanden, Stichwort Nachhaltigkeit, wo die Menschen sensibilisiert sind."
Zugleich fürchten Tourismusvertreter wie Klaus Holetschek, zu laute Debatten um Verbote und Obergrenzen könnten das Wachstum stoppen.
"Sind wir doch froh, dass wir diese tollen Schlösser von König Ludwig haben, die einfach die Menschen anziehen. Andere beneiden uns darum. Wir wollen die Menschen auch nicht abstoßen, sondern wir wollen sie eigentlich schon haben. Aber vielleicht zu anderen Zeiten und besser verteilt. Und natürlich gibt es auch Regionen in Bayern, wo wir noch mehr Tourismus vertragen könnten und wo wir uns überlegen, wie können wir das auch weiterentwickeln."
Digitalisierung bietet neue Möglichkeiten
Dafür haben sie im Freistaat vor einigen Wochen das Bayerische Zentrum für Tourismus gegründet, eine Art wissenschaftlich-praktische Ideenschmiede. Ihr Vorsitzender ist Tourismusforscher Alfred Bauer. Er verspricht sich durch die Digitalisierung eine bessere Lenkung der Besucher.
"Wenn Sie beispielsweise eine App haben, die Ihnen aktuell anzeigt, wie viele Besucher jetzt an der Kasse zu einer Sehenswürdigkeit anstehen. Und Sie daraus dann den Schluss ziehen, ich schaue mir in den nächsten zwei Stunden etwas anderes an, glaube ich schon, dass das zu einer Entzerrung der Besucherströme führen kann. Wenn das Ganze noch gepaart ist mit unterschiedlichen Eintrittspreisen, dann kann da sicherlich die Digitalisierung weiterhelfen."
Ob solche Apps wohl künftig auch Kreuzfahrtgäste steuern, die in Städten wie Passau geballt an Land gehen? Das Paar aus Kalifornien versteht die Sache mit der Obergrenze nicht so ganz. Sie sind begeistert von ihrer Reise und wollen eines Tages wiederkommen:
"I love Passau. This is a wonderful lovely city. I’d like to come back here."