Mathe und Machtfragen
Relative oder absolute Mehrheit? Aufrunden oder abrunden? In der Politik stößt man schon bei einfachen Wahlverfahren auf komplexe Probleme. Das demonstriert der Mathematiker George G. Szpiro anhand historischer Beispiele - vom alten Griechenland bis ins 20. Jahrhundert.
Der israelisch-schweizerische Mathematiker und Journalist will uns erklären, warum es so schwierig ist, bei Wahlen sein Kreuz an der richtigen Stelle zu machen. Und wie wir schon von Kurt Tucholsky wissen, fängt jedes anständige, deutschsprachige Sachbuch bei Adam und Eva an.
George Szpiro beginnt nicht bei Adam und Eva, sondern bei Platon und den alten Griechen, was im Prinzip dasselbe ist. Er beschreibt den Philosophen als Anti-Demokraten, der die Macht der herrschenden Klasse sichern will, und die sogenannte "Wiege der Demokratie" in Athen als ein Glücksspiel, bei dem ein Großteil der Amtsinhaber nicht per Wahl, sondern per Los bestimmt wird.
Szpiro vermutet, dass Platon die griechische Demokratie ablehnte, weil sein Lehrer Sokrates durch die Volksversammlung zum Tode durch den Schierlingsbecher verurteilt worden war. Aus dieser schlechten Erfahrung heraus bezweifelte er deren Legitimation.
"Da man annahm, dass Entscheidungen der Volksversammlung den Willen des Volkes ausdrückten, wurden sie von keiner höheren Autorität überprüft. Die Volksversammlung war also per Definition unfehlbar. Offensichtlich war Athens Vertrauen in das Allwissen und die Unfehlbarkeit seiner Bürger weit entfernt von Platons 'Der Staat', in dem den einfachen Leuten die Fähigkeit zum Denken und Entscheiden völlig abgesprochen wird."
Doch dieses erste Kapitel ist nur eine Fingerübung, eine Einführung in das Thema "Mathematik und Demokratie", denn Mathematik kommt hier und auch in dem kurzen Abschnitt über das Römische Reich kaum vor, denn
" ... der Abstimmungsprozess lief in der Regel unproblematisch ab, weil es bei der Wahl zwischen zwei Möglichkeiten keine besonderen Schwierigkeiten gibt: Ein einfacher Mehrheitsentscheid funktioniert. Und jedesmal, wenn aus mehr als zwei Kandidaten ein Amtsträger auszuwählen war, wurde die Entscheidung durch das Los dem Schicksal oder Gott zugeschoben."
So überrascht es den Leser doch, dass schon im Mittelalter über Abstimmungsmethoden für Mehrheitsentscheide nachgedacht wurde. Die Wahl des Papstes durch die Kardinäle oder eines Abtes aus der Mitte der Mönche war den Beteiligten dann doch so wichtig, dass man sie nicht mehr dem Schicksal oder Gott überlassen wollte. Und bei Abstimmungen über mehr als zwei Kandidaten treten grundsätzliche Probleme auf.
Wie erreicht man, dass auch bei einfacher Mehrheit derjenige gewählt wird, der für das Amt der Geeignetste ist? Wie verhindert man "taktische Wahlen", bei der eine Gruppe den offensichtlich chancenlosesten Kandidaten eine Stimme gibt, um den chancenreichsten Kandidaten zu schwächen?
Wer an die Zeit des Schismas mit bis zu drei Päpsten und Gegenpäpsten denkt, der versteht, warum sich Ramon Llull und Nikolaus Cusanus intensiv, aber auch ohne rechtes Ergebnis mit diesen Fragen beschäftigt hatten, worüber George Szpiro ausführlich und kenntnisreich berichtet.
Nachdem nun die Zeit des Schismas vorüber war, verlor das Thema etwas an Brisanz, bis es zu anderer Zeit der Geschichte wieder hochkochte: In Frankreich während der französischen Revolution, aber nicht im Parlament, wie man vermuten könnte, sondern in der Akademie der Wissenschaften und der "Académie Française". Denn schließlich wurden die Akademie-Mitglieder und ihre Vorsitzenden gewählt und die Frage nach der vernünftigsten Wahlmethode stand erneut im Raum. Es war Simon de Laplace, der als erster forderte, dass zumindest der Präsident der ehrwürdigen Gesellschaften mit absoluter Mehrheit gewählt werden müsse.
"Laplaces Bedingung der absoluten Mehrheit ging für die 'Académie des Sciences' in Ordnung; aber ein ganzes Land ohne Führung zu lassen, bis mehr als die Hälfte der Wähler sich auf einen Kandidaten einigen kann, ist es nicht."
Als letztes mischte sich auch noch Charles Dodgson aus Oxford, der unter dem Namen Lewis Caroll als Verfasser der Geschichten von "Alice im Wunderland" bekannt ist, in die Debatte ein. Der neue demokratische Geist am "Christ Church College" verlangte ebenfalls nach gerechten Wahlverfahren und der Mathematiker Dodgson versuchte sich daran. Er kannte die Texte seiner französischen Vorgänger nicht, kam aber zu identischen Ergebnissen und fand daher auch keinen Ausweg aus dem Dilemma der relativen Mehrheiten und taktisch wählenden Delegierten.
Der dritte Abschnitt des Buches wendet sich einem anderen Thema zu, das zuerst die Gründerväter der USA beschäftigte.
"Es geht um das Problem, wie Parlamentssitze verteilt werden. Jeder möchte, dass die Anzahl der Abgeordneten, die eine Region oder eine politische Partei in eine Volksvertretung schicken darf, auf gerechte und gleichmäßige Weise bestimmt wird."
Das Problem wäre keines, wenn eine Abordnung im Parlament aus 2,7 oder aus 16,2 Abgeordneten bestehen könnte, aber das ist nun leider unmöglich. Und so hat die Frage "Aufrunden oder Abrunden, und wenn ja, wann und wie" Generationen von Wissenschaftlern bis heute beschäftigt, ohne dass es zu einem abschließenden Ergebnis gekommen wäre. Schlimmer noch, 1949 wies der spätere Nobelpreisträger Kenneth Joseph Arrow in seiner Dissertation nach, dass es keine gerechte Methode gibt.
George G. Szpiro: Die verflixte Mathematik der Demokratie
Springer Verlag, Heidelberg-Berlin 2011
George Szpiro beginnt nicht bei Adam und Eva, sondern bei Platon und den alten Griechen, was im Prinzip dasselbe ist. Er beschreibt den Philosophen als Anti-Demokraten, der die Macht der herrschenden Klasse sichern will, und die sogenannte "Wiege der Demokratie" in Athen als ein Glücksspiel, bei dem ein Großteil der Amtsinhaber nicht per Wahl, sondern per Los bestimmt wird.
Szpiro vermutet, dass Platon die griechische Demokratie ablehnte, weil sein Lehrer Sokrates durch die Volksversammlung zum Tode durch den Schierlingsbecher verurteilt worden war. Aus dieser schlechten Erfahrung heraus bezweifelte er deren Legitimation.
"Da man annahm, dass Entscheidungen der Volksversammlung den Willen des Volkes ausdrückten, wurden sie von keiner höheren Autorität überprüft. Die Volksversammlung war also per Definition unfehlbar. Offensichtlich war Athens Vertrauen in das Allwissen und die Unfehlbarkeit seiner Bürger weit entfernt von Platons 'Der Staat', in dem den einfachen Leuten die Fähigkeit zum Denken und Entscheiden völlig abgesprochen wird."
Doch dieses erste Kapitel ist nur eine Fingerübung, eine Einführung in das Thema "Mathematik und Demokratie", denn Mathematik kommt hier und auch in dem kurzen Abschnitt über das Römische Reich kaum vor, denn
" ... der Abstimmungsprozess lief in der Regel unproblematisch ab, weil es bei der Wahl zwischen zwei Möglichkeiten keine besonderen Schwierigkeiten gibt: Ein einfacher Mehrheitsentscheid funktioniert. Und jedesmal, wenn aus mehr als zwei Kandidaten ein Amtsträger auszuwählen war, wurde die Entscheidung durch das Los dem Schicksal oder Gott zugeschoben."
So überrascht es den Leser doch, dass schon im Mittelalter über Abstimmungsmethoden für Mehrheitsentscheide nachgedacht wurde. Die Wahl des Papstes durch die Kardinäle oder eines Abtes aus der Mitte der Mönche war den Beteiligten dann doch so wichtig, dass man sie nicht mehr dem Schicksal oder Gott überlassen wollte. Und bei Abstimmungen über mehr als zwei Kandidaten treten grundsätzliche Probleme auf.
Wie erreicht man, dass auch bei einfacher Mehrheit derjenige gewählt wird, der für das Amt der Geeignetste ist? Wie verhindert man "taktische Wahlen", bei der eine Gruppe den offensichtlich chancenlosesten Kandidaten eine Stimme gibt, um den chancenreichsten Kandidaten zu schwächen?
Wer an die Zeit des Schismas mit bis zu drei Päpsten und Gegenpäpsten denkt, der versteht, warum sich Ramon Llull und Nikolaus Cusanus intensiv, aber auch ohne rechtes Ergebnis mit diesen Fragen beschäftigt hatten, worüber George Szpiro ausführlich und kenntnisreich berichtet.
Nachdem nun die Zeit des Schismas vorüber war, verlor das Thema etwas an Brisanz, bis es zu anderer Zeit der Geschichte wieder hochkochte: In Frankreich während der französischen Revolution, aber nicht im Parlament, wie man vermuten könnte, sondern in der Akademie der Wissenschaften und der "Académie Française". Denn schließlich wurden die Akademie-Mitglieder und ihre Vorsitzenden gewählt und die Frage nach der vernünftigsten Wahlmethode stand erneut im Raum. Es war Simon de Laplace, der als erster forderte, dass zumindest der Präsident der ehrwürdigen Gesellschaften mit absoluter Mehrheit gewählt werden müsse.
"Laplaces Bedingung der absoluten Mehrheit ging für die 'Académie des Sciences' in Ordnung; aber ein ganzes Land ohne Führung zu lassen, bis mehr als die Hälfte der Wähler sich auf einen Kandidaten einigen kann, ist es nicht."
Als letztes mischte sich auch noch Charles Dodgson aus Oxford, der unter dem Namen Lewis Caroll als Verfasser der Geschichten von "Alice im Wunderland" bekannt ist, in die Debatte ein. Der neue demokratische Geist am "Christ Church College" verlangte ebenfalls nach gerechten Wahlverfahren und der Mathematiker Dodgson versuchte sich daran. Er kannte die Texte seiner französischen Vorgänger nicht, kam aber zu identischen Ergebnissen und fand daher auch keinen Ausweg aus dem Dilemma der relativen Mehrheiten und taktisch wählenden Delegierten.
Der dritte Abschnitt des Buches wendet sich einem anderen Thema zu, das zuerst die Gründerväter der USA beschäftigte.
"Es geht um das Problem, wie Parlamentssitze verteilt werden. Jeder möchte, dass die Anzahl der Abgeordneten, die eine Region oder eine politische Partei in eine Volksvertretung schicken darf, auf gerechte und gleichmäßige Weise bestimmt wird."
Das Problem wäre keines, wenn eine Abordnung im Parlament aus 2,7 oder aus 16,2 Abgeordneten bestehen könnte, aber das ist nun leider unmöglich. Und so hat die Frage "Aufrunden oder Abrunden, und wenn ja, wann und wie" Generationen von Wissenschaftlern bis heute beschäftigt, ohne dass es zu einem abschließenden Ergebnis gekommen wäre. Schlimmer noch, 1949 wies der spätere Nobelpreisträger Kenneth Joseph Arrow in seiner Dissertation nach, dass es keine gerechte Methode gibt.
George G. Szpiro: Die verflixte Mathematik der Demokratie
Springer Verlag, Heidelberg-Berlin 2011