Mathematik hilft beim Fußball
Der Experimentalphysiker Metin Tolan empfiehlt der deutschen Fußballnationalmannschaft, beim Elfmeterschießen auf Mathematik zu setzen. "Man kann die Chancen verbessern, wenn man die Elfmeterschützen in der richtigen Reihenfolge schießen lässt."
Joachim Scholl: Metin Tolan ist Professor für experimentelle Physik in Dortmund und inzwischen ein Star der Wissenschaft, durch spektakuläre Untersuchungen und Experimente, geworden. So hat er mit seinen Studenten untersucht, welche Tricks und Stunts etwa in den James-Bond-Filmen physikalisch möglich sind, und welche nicht. Und jetzt, passend zur anstehenden Fußballweltmeisterschaft, hat Metin Tolan wieder geforscht, diesmal an Fußbällen. Physik rund um das runde Leder also, "So werden wir Weltmeister" lautet auch der selbstbewusste Titel seines neuen Buches. Ich grüße Sie, Professor Tolan!
Metin Tolan: Ja, Hallo!
Scholl!: Sie sind ein bekennender Fußballfan, wenn man in Dortmund lebt, ziemt sich das sowieso. Ab wann haben Sie angefangen beim Fußball zu rechnen?
Tolan: Ja, also ich bin schon immer ein Fußballfan gewesen, und bin auch jetzt natürlich ein großer Fußballfan, und, ja, sehen Sie, wenn Sie Physiker sind, dann rechnen Sie eigentlich – hätte ich fast gesagt – das ganze Leben. Und dann natürlich auch beim Fußball, also wenn man sich mal fragt, wie so ein schöner Freistoß, der im Bogen in den Winkel fliegt, ja, ob das Zauberei ist, oder, ob man das auch erklären kann. Dann kommen Sie natürlich als Physiker zu dem Schluss, dass man das erklären kann, und dann wollen Sie wissen, wie man das erklären kann, und so kommt dann eins zum anderen.
Scholl!: Ich meine, dass Physik im Spiel ist, wenn ein Ball durch die Luft fliegt, das ist jedem verständlich, der Physikunterricht in der Schule hatte, und dass man die Flugbahn eines Balles berechnen kann, auch. Dass er aber in jenem magischen Moment auch genau dahin fliegt, wohin er soll, nämlich ins Tor, das entzieht sich doch den Naturgesetzen, oder nicht?
Tolan: Das entzieht sich natürlich nicht den Naturgesetzen, aber das hat was mit Talent und Training zu tun, würde ich sagen. Und nicht so sehr, dass der Schütze wirklich den Schuss vorausberechnen kann, ich glaube, das geht schon deswegen nicht, weil das berechnen der Flugbahn ist außerordentlich kompliziert. Das kann man sich am besten so vorstellen, wenn Sie die Flugbahn einer Kugel berechnen wollen, die ein Kugelstoßer abwirft, dann ist das relativ einfach, weil der Luftwiderstand eigentlich keine Rolle spielt, und die Kugel ist schwer. Wenn Sie die Flugbahn berechnen wollen, eines Tischtennisballs, dann ist das relativ einfach, weil der Luftwiderstand doch das Dominierende ist und der Ball nicht so viel wiegt. Und beim Fußball ist es so, der Luftwiderstand und das Gewicht des Balles, die sind so ungefähr gleich groß, und immer wenn in der Physik so Sachen so gleich groß sind, dann tut sich auch die Physik sehr, sehr schwer, und deswegen ist das Berechnen wirklich hochkompliziert.
Scholl!: Sie wollen auch exakt beweisen können, wie ich Ihrem Vorwort des Buches entnehme, dass Fußball die ungerechteste Sportart sei, wie das denn?
Tolan: Ja, das mit dem Beweisen, dass Fußball die ungerechteste Sportart ist, das ist insofern relativ einfach, weil es läuft darauf hinaus, dass im Fußball sehr wenig Tore fallen, dass wissen wir ja. Und Sie können das jetzt bedauern, dass im Fußball sehr wenig Tore fallen, und ich bin aber ein großer Anhänger davon, ich sage Ihnen, es ist gut, dass im Fußball wenig Tore fallen. Denn das sorgt dafür, dass mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit auch eine deutlich schwächere Mannschaft mal gewinnen kann, denn wenn diese schwächere Mannschaft mal einen Zufallstreffer erzielt, dann sorgt der Fußball halt dafür, dass möglicherweise die viel, viel bessere Mannschaft, eben dann doch nicht das entscheidende Ausgleichstor erzielt oder möglicherweise noch gewinnt. Das heißt, dadurch ist in den Fußball eingebaut, dass im Pokal zum Beispiel auch ein Regionalligist mal eine Chance hat gegen einen Bundesligisten. Das ist natürlich ungerecht, weil die bessere Mannschaft nicht immer, oder nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit, gewinnt. Gucken Sie sich ein Gegenbeispiel nur an, Handball ist zum Beispiel uninteressant, ist aber dafür gerecht, weil im Handball fallen viele Tore, und das bedeutet, dass auch die stärkere Mannschaft mit höherer Wahrscheinlichkeit gewinnt, und im Handball ist es so.
Scholl!: Aber was, Herr Professor Tolan, hat das mit Physik zu tun?
Tolan: Das hat was mit Mathematik zu tun, das hat eher was mit Mathematik zu tun, also sehen Sie, Mathematik, Physik ist natürlich fließend. Mathematik ist die Sprache der Physik.
Scholl!: Sie untersuchen ganz viele fußballerische interessante Einzelaspekte, also für Fans ist das eine tolle Lektüre. Zum Beispiel geht es um das berühmte Wembley-Tor 1966, war der Ball drin oder nicht? Was sagt der Physiker?
Tolan: Der Physiker sagt, dass das natürlich eine … Dass das eine sehr, sehr schwierige Frage wieder mal ist. Denn wenn so ein Ball gegen eine Latte kracht, da laufen wieder enorm viele physikalische Prozesse ab, der Ball wird ja in Rotation versetzt, der dreht sich ganz schnell, und wenn so ein Ball dann auf die Erde runterspringt, dann müssen Sie sich vorstellen, ein Ball, der sich um die eigene Achse dreht, und dabei durch die Luft fliegt, das kennen wir vom Freistoß, das ist eine Bananenflanke. Das heißt, dieser Ball kann in einem Bogen auf die Erde geflogen sein, und er kann, also, die Linie treffen, und ich meine, das sehen wir ja in allen Bildern wirklich, dass der Ball die Linie trifft, also das ist klar. Aber er könnte sich in einem leichten Bogen hinter der Linie befunden haben, sodass er in der Luft hinter der Linie war, das können Sie nicht ausschließen, und Sie können sich sogar ausrechnen, wie schnell man den Ball dann gegen die Latte schießen müsste. Was man allerdings wirklich ausschließen kann, ist es, dass je jemand gesehen hat, denn selbst in diesem Fall, wäre der Ball nur zwei hundertstel Sekunden hinter der Linie gewesen, wenn das überhaupt der Fall war, und das können Sie wieder gar nicht sehen. Um einen Seheindruck zu verarbeiten, braucht Sie ungefähr eine Zehntelsekunde.
Scholl!: Sehen Sie, diesen physikalischen Nachweis, der war mir sofort einleuchtend, ich dachte, o. k., jede fußballerische Entscheidung, jede Schiedsrichterentscheidung in dieser Richtung, kann also überhaupt nicht nach physikalischen Gesetzen überhaupt objektiv sein.
Tolan: Ja, da ist sozusagen ein bisschen unsere Biologie davor, also Sie kennen das ja selber von Ihrem Computer auf Ihrem Schreibtisch, da gibt es eine bestimmte Verarbeitungsgeschwindigkeit, die man da benötigt. Und so hat auch natürlich unser Gehirn eine bestimmte Verarbeitungsgeschwindigkeit, und wenn die für einen Seheindruck eine Zehntelsekunde ist, dann spielt sich das zum Beispiel auch beim Abseits ab. In dieser Zehntelsekunde, ich meine, sind wir nicht blind, aber wir sind halt beschäftigt, wir können dann trotzdem eine Sache, die passiert, nicht richtig einschätzen. Und wenn Sie die eine Zehntelsekunde jetzt aufs Spielfeld umrechnen, heißt das, dass Sie eine Unsicherheit von bis zu 50 Zentimetern haben, auf der Sie gar nicht Abseits entscheiden können. Das heißt also, wenn dann auch noch die FIFA so eine unsinnige Regel macht, wie gleiche Höhe, ist kein Abseits, kein Linienrichter der Welt kann überhaupt gleiche Höhe entscheiden. Das ist schon lustig, weil ich bin ja auch ein großer Fan von Fehlentscheidungen beim Fußball.
Scholl!: "So werden wir Weltmeister", der Physiker Metin Tolan über die Physik beim Fußball hier im Deutschlandradio Kultur. So, Herr Tolan, jetzt aber mal raus mit der Sprache, wie werden wir Weltmeister im Sommer?
Tolan: Also erstmal kann man natürlich ein paar Sachen wirklich machen, also zum Beispiel würde ich sagen, es wird sicher wieder zu Elfmeterschießen kommen, das haben wir immer bisher erlebt, und da kann man nur sagen, da kann man die Chancen verbessern, wenn man natürlich die Elfmeterschützen, die man hat, in der richtigen Reihenfolge schießen lässt. Und nun könnte man sich natürlich überlegen, gut, ich sollte den stärksten Elfmeterschützen nach vorne stellen, aber das ist nicht die beste Reihenfolge. Die beste Reihenfolge ist, dass der schwächste Schütze zuerst schießt, und dann der zweitschwächste, und so weiter. Weil der Druck natürlich mit zunehmendem Elfmeter höher wird, und den kann natürlich der schwächste dann beim fünften Elfmeter gar nicht mehr aushalten.
Scholl!: Und das haben Sie mathematisch, statistisch überprüft, durch Tausende von Elfmeterschießen?
Tolan: Genau, das ist mathematisch, statistisch erstmal auszurechnen, das können Sie sich erstmal ausrechnen, das ist wirklich in Formeln zu fassen, und das ist dann so. Das ist dann gar nicht mehr zu diskutieren, weil die Mathematik ist halt relativ brutal, wenn Sie da etwas rausbekommen, dann ist das ein objektives Ergebnis, was Sie gar nicht weiter hinterfragen können. Aber das können Sie auch an Elfmeterschießen sehen, dass das wirklich auch rauskommt, dass der Schwächste beginnen sollte beim Elfmeterschießen. Und das zweite, was man sagen könnte ist, der liebe Jogi Löw sollte seinen Leuten auch spezielle Schuhe fürs Elfmeterschießen verpassen, denn, wenn die Schuhe schwerer wären, könnte man, wenn man mit diesen etwas schwereren Schuhen natürlich genauso schnell anläuft, auch etwas schneller schießen. Und das wäre ja ein gewisser Vorteil, man sollte natürlich schwerere Schuhe nicht das ganze Spiel über tragen, das geht auf die Kondition, aber mich wundert es nach wie vor, dass noch kein Hersteller spezielle Elfmeterschieß-Schuhe erfunden hat.
Scholl!: Ich glaube, das ist auch nicht erlaubt, dass man plötzlich die Schuhe wechselt, oder?
Tolan: Ich glaube schon, die können ja auch kaputt gegangen sein, kann ja plötzlich bei der ganzen Mannschaft, wie durch ein Wunder …
Scholl!: Das wäre ja interessant, wenn alle Fußballer beim Elfmeterschießen dann plötzlich zur Seite gehen, und dann irgendwelche Riesenkloben anziehen.
Tolan: Ja, aber das hat ja bisher noch keiner probiert, glaube ich.
Scholl!: In diesem Zusammenhang …
Tolan: Ich meine, vielleicht um da noch mal einzuhalten, 1954 ist Deutschland Weltmeister geworden, weil sie die ersten waren, die Schraubstollen hatten.
Scholl!: Gut, also das ist … Ja gut, das ist Sportgeschichte, aber ist es auch Sportphysik? Ich meine, wir sind bei Turnieren ja immer ganz gut im Elfmeterschießen gewesen die Deutschen eigentlich, die Engländer verlieren fast immer im Elfmeterschießen, die Deutschen gewinnen fast jedes.
Tolan: Das liegt auch daran, weil ich glaube, dass die Deutschen es auch trainieren, es ist nämlich so, das Elfmeter-Training zahlt sich auch wieder überproportional aus, auch wenn man das wieder mathematisch untersucht. Wenn jeder Spieler nur um zehn Prozent steigert im Elfmeterschießen, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass alle fünf Elfmeter versenkt werden aber bereits um 20 Prozent erhöht. Das ist eine sozusagen wieder erstaunliche mathematische Konsequenz aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung, also Sie sehen, es lohnt sich sogar überproportional, Elfmeterschießen zu üben. Und ich glaube, das haben die Deutschen auch immer getan, das scheinen die anderen Nationen nicht so getan zu haben.
Scholl!: In dem Zusammenhang, stärker schießen, schneller schießen fand ich ganz interessant, dass also manche Schützen eine Geschwindigkeit von 130 Stundenkilometern drauf bekommen, hört man ja da immer mal auch in der Sportschau, oder bei einer Übertragung. Aber Sie sagen definitiv, ein Mensch wird nie einen Ball mit einer Geschwindigkeit von 200 km/h schießen können. Warum eigentlich nicht?
Tolan: Ja, es ist genau so, es ist sogar so, wenn Sie ins Internet gucken, in der Wikipedia steht, dass der angeblich schnellste Schuss der Welt mit 210 Kilometern pro Stunde abgefeuert wurde, von irgendeinem Brasilianer, den ich vorher auch nicht kannte.
Scholl!: Also doch?
Tolan: Nein, Moment, das Internet hat ja nicht immer recht, das Internet ist gut, und die Wikipedia ist gut, aber das kann nicht stimmen. Ich kann Ihnen auch sagen, warum das nicht stimmen kann, man kann sich grob überlegen, dass man den Ball, also mit physikalischen Gesetzen, im günstigsten Fall auf die doppelte Geschwindigkeit des Fußes, der ihn tritt, beschleunigen kann. So, und jetzt, wenn ich jetzt anlaufe, bewegen sich meine Beine ungefähr doppelt so schnell, wie mein Körperschwerpunkt. Das heißt, den Ball kann ich im günstigsten Fall auf ungefähr die vierfache Anlaufgeschwindigkeit beschleunigen, und eine normale Anlaufgeschwindigkeit beim Elfmeter ist ungefähr 30 Kilometer pro Stunde, ergibt 30 mal vier sind so ungefähr 120, ich habe jetzt ganz grob mal gerechnet. Ja, jetzt teilen Sie aber mal 200 durch vier, da kommt eine Anlaufgeschwindigkeit von 50 Kilometern pro Stunde raus, selbst der Weltrekordler Usain Bolt hatte bei seinem 100-Meter-Weltrekord in Berlin letztes Jahr in der Spitze nur 44,5 Kilometer pro Stunde.
Scholl!: Klingt einleuchtend, hat der DFB Ihr Buch schon angefordert, Herr Tolan?
Tolan: Das weiß ich ehrlich gesagt nicht, ob er das beim Verlag angefordert hat, aber wäre natürlich mal eine Maßnahme.
Scholl!: Wäre ja gut, als Gepäck sozusagen, für die Kicker, obwohl bei diesen komplizierten physikalischen Formeln, die ja doch zuhauf auch in Ihrem Buch stehen …
Tolan: Joa …
Scholl!: Glaube ich, dass die Lektüre vielleicht dann doch ein wenig komplex ist.
Tolan: Also erstmal würde ich sagen, dass alles auch in Worten erklärt ist, und es wird auch immer auf Fußballszenen zurückgegriffen. Dann ist es so, also die Formeln kann man auch überlesen, dann sind sie nicht ganz so kompliziert, wie Sie das eben geschildert haben, und dann würde ich aber auch sagen, dass unsere Kicker sich echt aufs Spielen konzentrieren sollten, und das Buch können Sie dann nach der WM lesen.
Scholl!: Wenn sie Weltmeister geworden sind.
Tolan: Genau.
Scholl!: Welches WM-Tor oder welches Tor überhaupt, ist Ihnen eigentlich als physikalisch schönstes in Erinnerung geblieben, besonders?
Tolan: Ja, das schönste Tor, was ich glaube ich, bisher gesehen habe, und was auch physikalisch am interessantesten ist, ist aus dem Jahr 1997, der Freistoß von Roberto Carlos in dem WM-Vorbereitungsturnier, das war das, ich glaube, das eins zu eins gegen Frankreich ist das Spiel ausgegangen. Und das war ja das Vorbereitungsturnier auf die WM 1998 in Frankreich, heute heißt so was Confed-Cup. Und da hat Roberto Carlos wirklich einen Freistoß geschossen, man denkt, der Ball geht weit an der Mauer vorbei, aber dreht sich dann im letzten Moment noch ins Tor rein, und der französische Torhüter guckt wirklich verdutzt hinterher, und das ist aber auch physikalisch ganz leicht zu erklären. Roberto Carlos konnte besonders fest schießen, er hat den Ball wirklich optimal getroffen, nämlich, um eine solche Bananenflanke – das ist ja nichts anderes, als eine Bananenflanke – optimal zu treffen, muss man den Ball 70 Prozent von der Mitte treffen, damit der Ball einerseits in Rotation versetzt wird, aber andererseits auch noch genügend Geschwindigkeit bekommt. Und wenn man sich das anguckt, er trifft ihn genau da, ich weiß nicht, ob er sich das vorher ausgerechnet hat, möglicherweise nicht, aber ich weiß es immerhin. Und dann sieht man, wie dieser Ball sich genau so bewegt, wie man sich das auch ausrechnen würde.
Scholl!: Und das hat dann Metin Tolan vollends entzückt, den Experimentalphysiker. Sein Buch "So werden wir Weltmeister" ist im Piper-Verlag erschienen, ich danke Ihnen, Herr Tolan, alles Gute, ja, und schöne Spiele!
Tolan: Ja, vielen Dank!
Metin Tolan: Ja, Hallo!
Scholl!: Sie sind ein bekennender Fußballfan, wenn man in Dortmund lebt, ziemt sich das sowieso. Ab wann haben Sie angefangen beim Fußball zu rechnen?
Tolan: Ja, also ich bin schon immer ein Fußballfan gewesen, und bin auch jetzt natürlich ein großer Fußballfan, und, ja, sehen Sie, wenn Sie Physiker sind, dann rechnen Sie eigentlich – hätte ich fast gesagt – das ganze Leben. Und dann natürlich auch beim Fußball, also wenn man sich mal fragt, wie so ein schöner Freistoß, der im Bogen in den Winkel fliegt, ja, ob das Zauberei ist, oder, ob man das auch erklären kann. Dann kommen Sie natürlich als Physiker zu dem Schluss, dass man das erklären kann, und dann wollen Sie wissen, wie man das erklären kann, und so kommt dann eins zum anderen.
Scholl!: Ich meine, dass Physik im Spiel ist, wenn ein Ball durch die Luft fliegt, das ist jedem verständlich, der Physikunterricht in der Schule hatte, und dass man die Flugbahn eines Balles berechnen kann, auch. Dass er aber in jenem magischen Moment auch genau dahin fliegt, wohin er soll, nämlich ins Tor, das entzieht sich doch den Naturgesetzen, oder nicht?
Tolan: Das entzieht sich natürlich nicht den Naturgesetzen, aber das hat was mit Talent und Training zu tun, würde ich sagen. Und nicht so sehr, dass der Schütze wirklich den Schuss vorausberechnen kann, ich glaube, das geht schon deswegen nicht, weil das berechnen der Flugbahn ist außerordentlich kompliziert. Das kann man sich am besten so vorstellen, wenn Sie die Flugbahn einer Kugel berechnen wollen, die ein Kugelstoßer abwirft, dann ist das relativ einfach, weil der Luftwiderstand eigentlich keine Rolle spielt, und die Kugel ist schwer. Wenn Sie die Flugbahn berechnen wollen, eines Tischtennisballs, dann ist das relativ einfach, weil der Luftwiderstand doch das Dominierende ist und der Ball nicht so viel wiegt. Und beim Fußball ist es so, der Luftwiderstand und das Gewicht des Balles, die sind so ungefähr gleich groß, und immer wenn in der Physik so Sachen so gleich groß sind, dann tut sich auch die Physik sehr, sehr schwer, und deswegen ist das Berechnen wirklich hochkompliziert.
Scholl!: Sie wollen auch exakt beweisen können, wie ich Ihrem Vorwort des Buches entnehme, dass Fußball die ungerechteste Sportart sei, wie das denn?
Tolan: Ja, das mit dem Beweisen, dass Fußball die ungerechteste Sportart ist, das ist insofern relativ einfach, weil es läuft darauf hinaus, dass im Fußball sehr wenig Tore fallen, dass wissen wir ja. Und Sie können das jetzt bedauern, dass im Fußball sehr wenig Tore fallen, und ich bin aber ein großer Anhänger davon, ich sage Ihnen, es ist gut, dass im Fußball wenig Tore fallen. Denn das sorgt dafür, dass mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit auch eine deutlich schwächere Mannschaft mal gewinnen kann, denn wenn diese schwächere Mannschaft mal einen Zufallstreffer erzielt, dann sorgt der Fußball halt dafür, dass möglicherweise die viel, viel bessere Mannschaft, eben dann doch nicht das entscheidende Ausgleichstor erzielt oder möglicherweise noch gewinnt. Das heißt, dadurch ist in den Fußball eingebaut, dass im Pokal zum Beispiel auch ein Regionalligist mal eine Chance hat gegen einen Bundesligisten. Das ist natürlich ungerecht, weil die bessere Mannschaft nicht immer, oder nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit, gewinnt. Gucken Sie sich ein Gegenbeispiel nur an, Handball ist zum Beispiel uninteressant, ist aber dafür gerecht, weil im Handball fallen viele Tore, und das bedeutet, dass auch die stärkere Mannschaft mit höherer Wahrscheinlichkeit gewinnt, und im Handball ist es so.
Scholl!: Aber was, Herr Professor Tolan, hat das mit Physik zu tun?
Tolan: Das hat was mit Mathematik zu tun, das hat eher was mit Mathematik zu tun, also sehen Sie, Mathematik, Physik ist natürlich fließend. Mathematik ist die Sprache der Physik.
Scholl!: Sie untersuchen ganz viele fußballerische interessante Einzelaspekte, also für Fans ist das eine tolle Lektüre. Zum Beispiel geht es um das berühmte Wembley-Tor 1966, war der Ball drin oder nicht? Was sagt der Physiker?
Tolan: Der Physiker sagt, dass das natürlich eine … Dass das eine sehr, sehr schwierige Frage wieder mal ist. Denn wenn so ein Ball gegen eine Latte kracht, da laufen wieder enorm viele physikalische Prozesse ab, der Ball wird ja in Rotation versetzt, der dreht sich ganz schnell, und wenn so ein Ball dann auf die Erde runterspringt, dann müssen Sie sich vorstellen, ein Ball, der sich um die eigene Achse dreht, und dabei durch die Luft fliegt, das kennen wir vom Freistoß, das ist eine Bananenflanke. Das heißt, dieser Ball kann in einem Bogen auf die Erde geflogen sein, und er kann, also, die Linie treffen, und ich meine, das sehen wir ja in allen Bildern wirklich, dass der Ball die Linie trifft, also das ist klar. Aber er könnte sich in einem leichten Bogen hinter der Linie befunden haben, sodass er in der Luft hinter der Linie war, das können Sie nicht ausschließen, und Sie können sich sogar ausrechnen, wie schnell man den Ball dann gegen die Latte schießen müsste. Was man allerdings wirklich ausschließen kann, ist es, dass je jemand gesehen hat, denn selbst in diesem Fall, wäre der Ball nur zwei hundertstel Sekunden hinter der Linie gewesen, wenn das überhaupt der Fall war, und das können Sie wieder gar nicht sehen. Um einen Seheindruck zu verarbeiten, braucht Sie ungefähr eine Zehntelsekunde.
Scholl!: Sehen Sie, diesen physikalischen Nachweis, der war mir sofort einleuchtend, ich dachte, o. k., jede fußballerische Entscheidung, jede Schiedsrichterentscheidung in dieser Richtung, kann also überhaupt nicht nach physikalischen Gesetzen überhaupt objektiv sein.
Tolan: Ja, da ist sozusagen ein bisschen unsere Biologie davor, also Sie kennen das ja selber von Ihrem Computer auf Ihrem Schreibtisch, da gibt es eine bestimmte Verarbeitungsgeschwindigkeit, die man da benötigt. Und so hat auch natürlich unser Gehirn eine bestimmte Verarbeitungsgeschwindigkeit, und wenn die für einen Seheindruck eine Zehntelsekunde ist, dann spielt sich das zum Beispiel auch beim Abseits ab. In dieser Zehntelsekunde, ich meine, sind wir nicht blind, aber wir sind halt beschäftigt, wir können dann trotzdem eine Sache, die passiert, nicht richtig einschätzen. Und wenn Sie die eine Zehntelsekunde jetzt aufs Spielfeld umrechnen, heißt das, dass Sie eine Unsicherheit von bis zu 50 Zentimetern haben, auf der Sie gar nicht Abseits entscheiden können. Das heißt also, wenn dann auch noch die FIFA so eine unsinnige Regel macht, wie gleiche Höhe, ist kein Abseits, kein Linienrichter der Welt kann überhaupt gleiche Höhe entscheiden. Das ist schon lustig, weil ich bin ja auch ein großer Fan von Fehlentscheidungen beim Fußball.
Scholl!: "So werden wir Weltmeister", der Physiker Metin Tolan über die Physik beim Fußball hier im Deutschlandradio Kultur. So, Herr Tolan, jetzt aber mal raus mit der Sprache, wie werden wir Weltmeister im Sommer?
Tolan: Also erstmal kann man natürlich ein paar Sachen wirklich machen, also zum Beispiel würde ich sagen, es wird sicher wieder zu Elfmeterschießen kommen, das haben wir immer bisher erlebt, und da kann man nur sagen, da kann man die Chancen verbessern, wenn man natürlich die Elfmeterschützen, die man hat, in der richtigen Reihenfolge schießen lässt. Und nun könnte man sich natürlich überlegen, gut, ich sollte den stärksten Elfmeterschützen nach vorne stellen, aber das ist nicht die beste Reihenfolge. Die beste Reihenfolge ist, dass der schwächste Schütze zuerst schießt, und dann der zweitschwächste, und so weiter. Weil der Druck natürlich mit zunehmendem Elfmeter höher wird, und den kann natürlich der schwächste dann beim fünften Elfmeter gar nicht mehr aushalten.
Scholl!: Und das haben Sie mathematisch, statistisch überprüft, durch Tausende von Elfmeterschießen?
Tolan: Genau, das ist mathematisch, statistisch erstmal auszurechnen, das können Sie sich erstmal ausrechnen, das ist wirklich in Formeln zu fassen, und das ist dann so. Das ist dann gar nicht mehr zu diskutieren, weil die Mathematik ist halt relativ brutal, wenn Sie da etwas rausbekommen, dann ist das ein objektives Ergebnis, was Sie gar nicht weiter hinterfragen können. Aber das können Sie auch an Elfmeterschießen sehen, dass das wirklich auch rauskommt, dass der Schwächste beginnen sollte beim Elfmeterschießen. Und das zweite, was man sagen könnte ist, der liebe Jogi Löw sollte seinen Leuten auch spezielle Schuhe fürs Elfmeterschießen verpassen, denn, wenn die Schuhe schwerer wären, könnte man, wenn man mit diesen etwas schwereren Schuhen natürlich genauso schnell anläuft, auch etwas schneller schießen. Und das wäre ja ein gewisser Vorteil, man sollte natürlich schwerere Schuhe nicht das ganze Spiel über tragen, das geht auf die Kondition, aber mich wundert es nach wie vor, dass noch kein Hersteller spezielle Elfmeterschieß-Schuhe erfunden hat.
Scholl!: Ich glaube, das ist auch nicht erlaubt, dass man plötzlich die Schuhe wechselt, oder?
Tolan: Ich glaube schon, die können ja auch kaputt gegangen sein, kann ja plötzlich bei der ganzen Mannschaft, wie durch ein Wunder …
Scholl!: Das wäre ja interessant, wenn alle Fußballer beim Elfmeterschießen dann plötzlich zur Seite gehen, und dann irgendwelche Riesenkloben anziehen.
Tolan: Ja, aber das hat ja bisher noch keiner probiert, glaube ich.
Scholl!: In diesem Zusammenhang …
Tolan: Ich meine, vielleicht um da noch mal einzuhalten, 1954 ist Deutschland Weltmeister geworden, weil sie die ersten waren, die Schraubstollen hatten.
Scholl!: Gut, also das ist … Ja gut, das ist Sportgeschichte, aber ist es auch Sportphysik? Ich meine, wir sind bei Turnieren ja immer ganz gut im Elfmeterschießen gewesen die Deutschen eigentlich, die Engländer verlieren fast immer im Elfmeterschießen, die Deutschen gewinnen fast jedes.
Tolan: Das liegt auch daran, weil ich glaube, dass die Deutschen es auch trainieren, es ist nämlich so, das Elfmeter-Training zahlt sich auch wieder überproportional aus, auch wenn man das wieder mathematisch untersucht. Wenn jeder Spieler nur um zehn Prozent steigert im Elfmeterschießen, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass alle fünf Elfmeter versenkt werden aber bereits um 20 Prozent erhöht. Das ist eine sozusagen wieder erstaunliche mathematische Konsequenz aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung, also Sie sehen, es lohnt sich sogar überproportional, Elfmeterschießen zu üben. Und ich glaube, das haben die Deutschen auch immer getan, das scheinen die anderen Nationen nicht so getan zu haben.
Scholl!: In dem Zusammenhang, stärker schießen, schneller schießen fand ich ganz interessant, dass also manche Schützen eine Geschwindigkeit von 130 Stundenkilometern drauf bekommen, hört man ja da immer mal auch in der Sportschau, oder bei einer Übertragung. Aber Sie sagen definitiv, ein Mensch wird nie einen Ball mit einer Geschwindigkeit von 200 km/h schießen können. Warum eigentlich nicht?
Tolan: Ja, es ist genau so, es ist sogar so, wenn Sie ins Internet gucken, in der Wikipedia steht, dass der angeblich schnellste Schuss der Welt mit 210 Kilometern pro Stunde abgefeuert wurde, von irgendeinem Brasilianer, den ich vorher auch nicht kannte.
Scholl!: Also doch?
Tolan: Nein, Moment, das Internet hat ja nicht immer recht, das Internet ist gut, und die Wikipedia ist gut, aber das kann nicht stimmen. Ich kann Ihnen auch sagen, warum das nicht stimmen kann, man kann sich grob überlegen, dass man den Ball, also mit physikalischen Gesetzen, im günstigsten Fall auf die doppelte Geschwindigkeit des Fußes, der ihn tritt, beschleunigen kann. So, und jetzt, wenn ich jetzt anlaufe, bewegen sich meine Beine ungefähr doppelt so schnell, wie mein Körperschwerpunkt. Das heißt, den Ball kann ich im günstigsten Fall auf ungefähr die vierfache Anlaufgeschwindigkeit beschleunigen, und eine normale Anlaufgeschwindigkeit beim Elfmeter ist ungefähr 30 Kilometer pro Stunde, ergibt 30 mal vier sind so ungefähr 120, ich habe jetzt ganz grob mal gerechnet. Ja, jetzt teilen Sie aber mal 200 durch vier, da kommt eine Anlaufgeschwindigkeit von 50 Kilometern pro Stunde raus, selbst der Weltrekordler Usain Bolt hatte bei seinem 100-Meter-Weltrekord in Berlin letztes Jahr in der Spitze nur 44,5 Kilometer pro Stunde.
Scholl!: Klingt einleuchtend, hat der DFB Ihr Buch schon angefordert, Herr Tolan?
Tolan: Das weiß ich ehrlich gesagt nicht, ob er das beim Verlag angefordert hat, aber wäre natürlich mal eine Maßnahme.
Scholl!: Wäre ja gut, als Gepäck sozusagen, für die Kicker, obwohl bei diesen komplizierten physikalischen Formeln, die ja doch zuhauf auch in Ihrem Buch stehen …
Tolan: Joa …
Scholl!: Glaube ich, dass die Lektüre vielleicht dann doch ein wenig komplex ist.
Tolan: Also erstmal würde ich sagen, dass alles auch in Worten erklärt ist, und es wird auch immer auf Fußballszenen zurückgegriffen. Dann ist es so, also die Formeln kann man auch überlesen, dann sind sie nicht ganz so kompliziert, wie Sie das eben geschildert haben, und dann würde ich aber auch sagen, dass unsere Kicker sich echt aufs Spielen konzentrieren sollten, und das Buch können Sie dann nach der WM lesen.
Scholl!: Wenn sie Weltmeister geworden sind.
Tolan: Genau.
Scholl!: Welches WM-Tor oder welches Tor überhaupt, ist Ihnen eigentlich als physikalisch schönstes in Erinnerung geblieben, besonders?
Tolan: Ja, das schönste Tor, was ich glaube ich, bisher gesehen habe, und was auch physikalisch am interessantesten ist, ist aus dem Jahr 1997, der Freistoß von Roberto Carlos in dem WM-Vorbereitungsturnier, das war das, ich glaube, das eins zu eins gegen Frankreich ist das Spiel ausgegangen. Und das war ja das Vorbereitungsturnier auf die WM 1998 in Frankreich, heute heißt so was Confed-Cup. Und da hat Roberto Carlos wirklich einen Freistoß geschossen, man denkt, der Ball geht weit an der Mauer vorbei, aber dreht sich dann im letzten Moment noch ins Tor rein, und der französische Torhüter guckt wirklich verdutzt hinterher, und das ist aber auch physikalisch ganz leicht zu erklären. Roberto Carlos konnte besonders fest schießen, er hat den Ball wirklich optimal getroffen, nämlich, um eine solche Bananenflanke – das ist ja nichts anderes, als eine Bananenflanke – optimal zu treffen, muss man den Ball 70 Prozent von der Mitte treffen, damit der Ball einerseits in Rotation versetzt wird, aber andererseits auch noch genügend Geschwindigkeit bekommt. Und wenn man sich das anguckt, er trifft ihn genau da, ich weiß nicht, ob er sich das vorher ausgerechnet hat, möglicherweise nicht, aber ich weiß es immerhin. Und dann sieht man, wie dieser Ball sich genau so bewegt, wie man sich das auch ausrechnen würde.
Scholl!: Und das hat dann Metin Tolan vollends entzückt, den Experimentalphysiker. Sein Buch "So werden wir Weltmeister" ist im Piper-Verlag erschienen, ich danke Ihnen, Herr Tolan, alles Gute, ja, und schöne Spiele!
Tolan: Ja, vielen Dank!