Mathias Énard: Die Straße der Diebe

Wie junge Menschen Opfer von Islamisten werden

Der französische Autor Mathias Énard bei einer Pressekonferenz.
Der französische Autor und Goncourt-Preisträger Mathias Énard © afp / Thomas Samson
Von Dirk Fuhrig |
Durch die jüngsten Anschläge erfährt Mathias Énards Roman "Straße der Diebe" von 2013 neue Aktualität: Meisterhaft zeigt er auf, wie Jugendliche in die Fänge von Islamisten geraten. Dirk Fuhrig hat den Autor in Barcelona getroffen.
Unterwegs mit Mathias Énard in Barcelona. Der Schriftsteller aus Frankreich wohnt mitten im alten "Raval"-Viertel.
"Ich habe 'Straße der Diebe' hier geschrieben, in dieser Straße. Alle Hauptfiguren habe ich in dieser Straße kennengelernt. Junge Marokkaner. Wir haben viel geredet. Sie haben mir ihre Geschichte erzählt, wie sie nach Barcelona gekommen sind."
Der Protagonist in Énards Roman "Straße der Diebe" flieht aus Marokko, aus Angst vor einer Verstrickung in Attentate muslimischer Fanatiker.
"Abends um halb acht saß ich vor dem Fernseher; ich sah Aufnahmen von einem zerstörten, zerfetzten Café, zersplitterte Tische, herumliegende Stühle."
So heißt es im Roman. Der junge Mann aus Marokko hat einen fürchterlichen Verdacht. Nämlich dass sein Jugendfreund Bassam in die terroristische Szene abgeglitten sein könnte:
"Das 'Café Hafa' hängt an einem Steilhang über dem Mittelmeer, versteckt zwischen Bougainvilleen und Jasminsträuchern der Luxusvillen in diesem Stadtviertel; es ist vielleicht der berühmteste Ort in Tanger. (...) In der Zeitung las ich, dass ein Mann ins Café gestürmt war, einen langen Dolch oder einen Säbel gezogen und eine Gruppe junger Leute an einem Tisch angegriffen hatte, bestimmt weil Ausländer dabei waren. Verfolgt von Gästen und Kellnern, floh der Angreifer über den Felsen. (..) Sein Phantombild war dem Artikel beigefügt; er hatte den runden Kopf und die kindlichen Züge von Bassam, er hätte es sein können."

Junge Muslime zwischen Tanger und Barcelona

"Ich wollte sehr gegenwärtig schreiben. Darüber, was 2011 in der arabischen Welt passiert ist", sagt Mathias Énard, während wir durchs Raval laufen.
"Diese jungen Marokkaner waren in Marokko im Februar 2011 und haben mir erzählt, wie es war. Und dann dachte ich: Ah, das ist die Hauptfigur, die ich brauchte. Und anhand dieser Hauptfigur habe ich dann den Roman geschrieben zwischen Tanger und Barcelona."
Mathias Énard hat in seinem Roman aus der Aktualität geschöpft. Der Schriftsteller nahm die beiden Anschläge in Marrakesch und Tanger zum Anlass, um die Mechanismen zu beschreiben, die einen Jugendlichen dazu bringen, zum Mörder zu werden.
Damals, vor fünf Jahren, schienen die Attentate in Marokko weit weg - zu weit weg für mehr als ein paar Meldungen in den Nachrichten. Heute kann man Mathias Énards Buch kaum lesen, ohne sofort an die Anschläge der jüngsten Zeit zu denken, an Paris, Brüssel, Nizza, Würzburg.

Radikale Prediger vermitteln Halt und geistige Heimat

Dem preisgekrönten französischen Autor gelingt es meisterhaft, die psychologischen Verwerfungen und Verirrungen aufzuzeigen, die einen aus seinen familiären Bindungen gestoßenen Heranwachsenden in die Hände von scheinbar frommen Predigern fallen lassen. Weil er Sex mit seiner Cousine hatte, wurde er von den Eltern verstoßen. Die freundlichen Herren in der Moschee geben ihm Halt, eine Wohnung, Arbeit - eine geistige Heimat. Und träufeln ihm schleichend das Gift der fundamentalistischen Ideologie ein.
"Islamismus ist sehr gefährlich. Aber ich bin nicht so pessimistisch. Radikalismus oder Islamismus ist nicht Islam. Es gibt viele andere Formen, mystische Versionen, sehr schöne auch Versionen des Islams. Es ist nicht nur Gewalt und Radikalismus."

Vielfältiger Kosmos der arabischen Kulturen

Anders als Michel Houellebecqs "Unterwerfung" oder Boualem Sansals "2084. Das Ende der Welt" ist Mathias Énards Roman jedoch keine finstere Untergangsvision. Die eindringliche Warnung vor dem radikalen Islamismus geht bei ihm einher mit einer äußerst differenzierten Sicht auf die muslimische Welt. Die kennt Énard nicht von seinen vielen Reisen rund um das Mittelmeer, sondern auch weil er in verschiedenen arabischen Ländern jahrelang gelebt hat. Ohne den Extremismus im Geringsten zu verharmlosen, eröffnet er seinen Lesern einen vielfältigen Kosmos der arabischen Kulturen.
"Was schrecklich ist, ist, dass man die Flüchtlinge als die Anderen sieht. Aber sie sind uns so nah, es gibt keine Grenze zwischen Ost und West, zwischen Orient und Okzident. Das sind nur Konzepte, aber in Wirklichkeit ist ein Syrer oder Marokkaner gar nicht so weit von uns weg. Klar, sie haben andere Sprachen, andere Religionen, andere Kulturen, aber sie sind nicht so weit weg. Und das ist wichtig zu wissen."
Der Roman "Straße der Diebe" weckt die Hoffnung, dass ein junger Mensch, der in die Fänge des gewaltbereiten Fundamentalismus gerät, sich daraus wieder zu lösen vermag. Sein "Held" erschrickt vor der Fanatisierung seines Jugendfreunds - und schaltet Bassam aus, bevor dieser ein Attentat in Barcelona verüben kann.

Mathias Énard: Straße der Diebe
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Verlag Hanser Berlin 2013
352 Seiten, 19,90 Euro

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