Mathias Jeschke: "Ich bin der Wal deiner Träume"
Limbus Verlag, Innsbruck 2019
96 Seiten, 15 Euro
Poesie als Lebensform
06:47 Minuten
Mathias Jeschkes neue Lyrik träumt von Reisen in unbekanntes Gebiet, von der Menschheitsgesellschaft und dokumentiert in "Ich bin der Wal deiner Träume" auf wundersame Weise: In der Dichtung gibt es keine Grenzen - weder für Utopien noch für Nixen.
Ein Abend auf dem Balkon, das milde Sirren der Grillen, ein sternenklarer Himmel, das richtige Buch auf dem Schoß.
Und je länger ich hier sitze
und lese, desto mehr habe ich das Gefühl,
mich vorwärts zu bewegen auf meinem
Stuhl
(…)
da erreichen wir
das weit entfernte weite Meer.
Und je länger ich hier sitze
und lese, desto mehr habe ich das Gefühl,
mich vorwärts zu bewegen auf meinem
Stuhl
(…)
da erreichen wir
das weit entfernte weite Meer.
Ohne sich fortbewegen zu müssen, ist man in Mathias Jeschkes Band "Ich bin der Wal deiner Träume" immer unterwegs. Zumeist beginnen die Gedichte mit einer Beobachtung, einer Fotografie oder einer Bahnfahrt und gehen langsam in sogartige Gedankenreisen über. Mehr und mehr zieht die Lyrik dabei das Ferne und Unsichtbare in die Gegenwart hinein – ein utopischer Impetus, der die Grenzen von Zeit und Raum stets zu überwinden weiß.
Nixen tummeln sich im Freibad
Was nicht wieder entdeckt werden kann, muss man selbst kreieren. "Nimm ein Gelände, möglichst leer", ruft man daher dem Leser zu. Mit Farben soll er Geschichten malen und zugleich aus dem Reichtum der eigenen Seele schöpfen: "Und hol im richtigen / Moment dein inneres Bild aus der Tiefe hervor." Das Wort ist gesetzt und stellt eine neue Wirklichkeit her, sodass aus einem gezeichneten ein lebendiger Vogel hervorgehen und Nixen sich im Freibad tummeln können.
Um die Welt zu poetisieren, braucht Jeschke keinerlei große Reden, sondern zehrt oftmals von den Kleinigkeiten des Alltags: von Lektüren, Augenblicken mit der Familie oder der Gartenarbeit. Nicht selten muten einige seiner Miniaturen wie Prosanotate und Gesprächsfetzen an. Andere wiederum brechen mit der erzählerischen Form, springen in Zweizeilern von Gedanke zu Gedanke. Dass Jeschke eine derartige stilistische Variationsbreite beherrscht, bietet ästhetischen Genuss und zeigt uns einen Dichter, der Poesie in all ihren Möglichkeiten als Lebensform versteht.
Hölderlin nicht ganz unähnlich
Darüber hinaus bildet sie für den 1963 geborenen und in Stuttgart lebenden Schriftsteller ebenso einen sprachlich eingefassten Rahmen für eine Ethik. Seinem Landsmann Friedrich Hölderlin, dessen 250. Geburtstag im kommenden Jahr ansteht, nicht ganz unähnlich, sucht er im Gedicht unentwegt nach der Gemeinschaft, sinnt auf das "lauschend zueinander findende Wir".
Während in einem Text Flaggen den Meeresgrund national aufteilen, vernimmt man zugleich die Idee der Menschheitsgesellschaft: "Wir schwimmen vorbei, / (…) subnational / miteinander verbunden." Und so hängt in diesem manchmal scheinbar völlig unauffällig mit Motiven wie dem Gewebe oder dem verklebenden Honig spielenden Band alles mit allem zusammen.
Pilze versetzen das lyrische Ich in die Kindheit
Insbesondere die mehrfach erwähnten Pilze, die das lyrische Ich in die behütete Kindheit zurückversetzen, erweisen sich mit ihrer untergründigen Netzstruktur als deutliches Signé eines um Verknüpfung bemühten Schreibens. Forciert werden die "Beziehung […] zur Welt der Wahrnehmung / und der Erinnerung" sowie allen voran Annäherungen – an den Nächsten wie auch den Fernsten.
Empathie kommt in den lyrischen Abbreviaturen neben den Menschen sogar einem sterbenden Insekt zu. Wer das Dasein so filigran verdichtet, weiß: Im Detail verbirgt sich stets das Große und Ganze.