Mathias Rohe: "Der Islam in Deutschland"

Ein Reiseführer ins muslimische Deutschland

Die Berliner Sehitlik-Moschee am Tag der Offenen Moschee
Die Berliner Sehitlik-Moschee im Bezirk Neukölln an einem Tag der Offenen Moschee © picture alliance / ZB / Peter Zimmermann
Von Thilo Guschas |
Mathias Rohe hat Forschungsstand und statistische Erkenntnisse über die deutsche muslimische Community ausgewertet. Mit seinem Sachbuch "Der Islam in Deutschland" liefert er eine manchmal trockene, aber lohnenswerte Lektüre - voller nüchterner Fakten.
Folgendes Experiment ist jedem ans Herz zu legen. Einmal einen "Reiseführer Germany" zu lesen. Also eine Beschreibung Deutschlands für Fremde, zum Beispiel aus amerikanischer Sicht. Dies kann den Blick weiten, einmal scheinbar Selbstverständliches zu hinterfragen. Ein Buch über den Islam in Deutschland hat genau dieses Potenzial. Muslime und Islam, nicht erst seit Ankunft syrischer Flüchtlinge, sind als Thema allgegenwärtig. Den "Islam in Deutschland", so der Titel des aktuellen Buches von Mathias Rohe, einmal grundlegend aufzurollen, nicht nur entlang von Schlagzeilen, birgt daher eine große Chance. Dazu der Buchautor:
"Wenn man Leute fragt, was assoziiert ihr mit Islam in Deutschland, da kommen halt in der Regel die Horrorthemen. Also diese Wahrnehmung 'Der Islam ist ein Problem', das ist in vielen Köpfen drin, vielleicht auch noch teilweise etwas medial unterstützt oder durch manche scharfen politischen Äußerungen, insofern ist es vielleicht einfach, wenn ich so sagen darf, ein Reiseführer in die Realität muslimischen Lebens in Deutschland."
Diese "muslimische Realität" ist ambivalent. Kopftuchtragende Frauen seien weit weniger integriert in den Arbeitsmarkt als Musliminnen und Nicht-Musliminnen ohne Kopftuch. Ob hieran das eigene Rollenverständnis oder aber Diskriminierung verantwortlich ist, bleibe allerdings unklar. Dagegen steht die Erkenntnis, dass prozentual mehr Muslime in deutschen Parteien organisiert sind als der Rest der Bevölkerung. Dies widerspricht dem oft beschworenen Bild von Muslimen als einer Gemeinschaft, die gerade erst aus Hinterhofmoscheen hervorkommt und deren Herz oft noch in den einstigen Heimatländern schlage. Wer aber zu der Minderheit gehört, die sich politisch engagiert, lebt und liebt hier – er ist angekommen.

Wer ist die "schweigende Mehrheit?"
Mathias Rohe: "Der Islam in Deutschland"
Mathias Rohe: "Der Islam in Deutschland"© C.H. Beck
Rohe präsentiert keine neuen Erkenntnisse. Er referiert bestehende Studien. Charme und Chance liegen darin, dass diese oft nur einem Fachpublikum bekannt sind. Rohe trägt zusammen, moderiert, bewertet. Es sind Einladungen zur Reflektion über Thesen und Phrasen, die sich in Nebensätzen von Zeitungsartikeln finden. Etwa die, dass die Islamverbände nur einen Bruchteil der Muslime repräsentieren – und die "schweigende Mehrheit" sprachlos bleibe. Aber wer ist diese "schweigende Mehrheit" überhaupt?
Buchzitat: "Spekulationen über ihre Ansichten sind in aller Regel haltlos – das Charakteristikum der schweigenden Mehrheit ist nun einmal ihr Schweigen. Der wiederholte Vorwurf gegenüber Regierungen oder staatlichen Behörden, bestimmte Richtungen einseitig zu privilegieren, verkennt schlicht die bestehende Rechtslage. Es ist der Preis der Säkularität, dass der Staat sich nicht in innerreligiöse Meinungsstreitigkeiten einmischen und sich 'Lieblingsgläubige' erwählen darf."
Über weite Strecken ist "Der Islam in Deutschland" ein wissenschaftliches Buch - nicht immer leichte Kost. Der aktuelle Forschungsstand und statistische Erkenntnisse sind keine Lektüre für nebenbei – auch wenn Rohes Sprache erfreulich scharf differenziert. Zugleich gibt es aber auch viele journalistisch klingende Passagen. Zitiert wird etwa aus einer zu Herz gehenden Rede der Schauspielerin Sibel Kekilli. Und Rohe empfiehlt auch Romane zur Lektüre. Damit wirkt sein Text wohltuend und angemessen bunt. Inhaltlich folgt das Buch einer anspruchsvollen Linie: Es soll nur um den Islam gehen – um nichts anderes.
Der "Unterschied zwischen Männern und Böcken"
Buchzitat: "Wer nicht hinreichend Deutsch kann, um Zugang zu Bildung und Arbeit zu erhalten, benötigt keine religiösen Instruktionen, sondern Deutschunterricht. Und umgekehrt: Wenn jemand wegen eines türkisch oder arabisch klingenden Nachnamens trotz guter Qualifikation nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen wird, zeigt sich ein Problem der deutschen Gesellschaft mit den Folgen der Migration, aber keine religiöse Kontroverse. All dies ist wichtig, oft sogar entscheidend für das Zusammenleben, jedoch nicht eigentlich Thema des Buches."
Den Islam zu beschreiben, ist schon raumgreifend genug. Das Spektrum reicht von den Grundlagen, wer eigentlich Sunniten und Schiiten sind, über die Frage, wie die umstrittene Vollverschleierung eigentlich islamwissenschaftlich zu bewerten ist, bis zum religiösen Extremismus. Rohe drückt sich nicht davor, Position zu beziehen. Etwa durch das Plädoyer, die Islam-Verbände nicht pauschal zu verurteilen. In Zeiten, in denen die Ditib als verlängerter Arm Erdogans gilt, keine populäre Haltung. Zugleich spricht hier kein zwanghafter Vermittler oder Sozialromantiker.
Zwar lernte Rohe schon als Schüler Arabisch. Er ist spürbar fasziniert von der arabischen Kultur. Aber er verliert er sich nicht darin, "Islamkritiker" zu entkräften, sondern benennt ebenso fragwürdige Positionen auf muslimischer Seite. Etwa das oft vorgetragene Argument, die Verschleierung von Frauen bleibe der beste Schutz vor männlicher Belästigung. Einen besonders drastischen Aufruf auf der Webseite einer Erlanger Moschee kommentiert Rohe so:
Buchzitat: "Darin zeigt sich sowohl eine rücksichtslose Zuweisung von Verantwortung für übergriffiges oder gar kriminelles männliches Verhalten an die weiblichen Opfer als auch die Unkenntnis des Unterschieds zwischen Männern und Böcken."
"Was heißt denn eigentlich 'Scharia'?"
Besonders aufschlussreich ist die Analyse von Studien, deren Ergebnisse große Wellen schlugen.
Mathias Rohe: "Diese Panikstudien, die wir gerade in den letzten Jahren zum Teil haben, wo die Leute gefragt werden, was ist ihnen wichtiger, die Scharia, das islamische Normensystem oder das geltende Recht, das Grundgesetz, und wenn welche dann sagen, Scharia ist mir wichtiger, dann gilt das als Horrormeldung.
Nur, was heißt denn dann eigentlich 'Scharia'? Heißt das Beten, Fasten und ähnliches mehr, die religiösen Gebote? Ja wenn den Leuten das wichtig ist, das dürfen sie hier tun, das ist Religionsfreiheit. Es gibt andere Dinge natürlich, wenn die sagen würden 'Wir wollen hier ein Kalifat haben oder wir wollen Hände abschneiden für Diebstahl', damit hätten wir ein sehr, sehr großes Problem. Aber man muss die richtigen Fragen stellen."
"Traue keiner Statistik, deren Fragestellung du nicht selbst entwickelt hast" - reicht das für einen "Reiseführer", für einen erfrischenden Blick auf vermeintlich Bekanntes? Ja, tut es. Wissenschaft und Statistik, Rechtskenntnis und Islamwissenschaft korrigieren viele landläufige Wahrnehmungen. Ein Buch über den Islam als "Reiseführer" scheint ein Kompliment - einerseits.
Mathias Rohe: "Andererseits finde ich es fast auch ein bisschen erschütterlich, weil dahinter ja auch die Überlegung steht, man hat bestimmte Dinge einfach vorher ganz anders wahrgenommen und ich schon versuche, in diesem Buch das wiederzugeben, was man empirisch wahrnehmen kann."

Mathias Rohe: "Der Islam in Deutschland"
416 Seiten, C.H. Beck, 16,95 Euro