Mathieu Riboulet: "Und dazwischen nichts"
Deutsch von Karin Uttendörfer
Matthes & Seitz, Berlin 2017
220 Seiten, 20 Euro
Als sexuelle und politische Rebellion im Gleichschritt marschierten
Das Aufbegehren vieler Jugendlicher in den 1970ern richtete sich gegen staatliche und sexuelle Repression gleichermaßen. Wie sich dabei das Private und das Politische verzahnten, schildert Mathieu Riboulets fiktive Autobiografie: eindringlich und prägnant.
Selten wurde der Slogan "Das Private ist politisch" so konsequent in Szene gesetzt wie in Mathieu Riboulets Roman "Und dazwischen nichts". Der Text gibt sich als fiktive Autobiografie der Jahre 1972 bis 1978, vom Attentat während der Olympischen Spiele in München bis zur Ermordung des italienischen Politikers Aldo Moro durch die Roten Brigaden, erweitert durch Vor- und Rückblicke vom Tod Benno Ohnesorgs 1967 bis zum Mauerfall.
In der Nacht des Mauerfalls an Aids gestorben
Diese Eckpunkte machen deutlich, dass Mathieu Riboulet hier ein wahrlich politisches Buch vorlegt, in dem aber auch der sexuellen 'Erweckung' des Erzählers, der Erkenntnis seiner Homosexualität und dem mitunter militanten, stets heftigen Ausleben der körperlichen Leidenschaften breiter Raum gewidmet wird.
Beides ist eng miteinander verknüpft und geht im Buch einher mit einem expliziten Nachdenken über das Schreiben, die Schwierigkeiten der Chronologie, der Obszönität oder der Tatsache, dass historische Fakten unglaublicher als literarische Fiktion sein können; letzteres beispielweise wenn Martin, der Partner des Erzählers, genau in der Nacht des Mauerfalls an Aids stirbt.
Sexuelles und politisches Erwachsenwerden
So kann man sich fragen, ob Mathieu Riboulet, Jahrgang 1960, tatsächlich als 12-Jähriger mit seinen Eltern nach Polen gereist ist, Auschwitz besucht hat und auf dem Heimweg mit ihnen während des Attentats in München war oder mit 18 allein in Rom während der Entführung Aldo Moros und ihres grausamen Endes, doch spielt dies für die Stringenz der Erzählung keine Rolle.
Durch diese Koinzidenzen kann der Autor den Prozess eines Erwachsenwerdens, in dem Sexualität und politisches Bewusstsein gleichermaßen intensiv sind, einbetten in die Revolte gegen den Staat jener Jahre und die entsprechenden Repressionen, die in Frankreich, Deutschland und Italien jeweils ganz eigene Formen annahm, westlich des Rheins deutlich weniger gewaltsam verlief, da es dort weder ein Äquivalent zu Baader-Meinhof noch zu den Brigate rosse gab.
Deutschland, Frankreich und Italien im Blick
Zu den besonderen Stärken des Textes gehört der Blick auf alle drei Länder, der die Parallelen aufzeigt und, soweit dies möglich ist, die grundlegenden Unterschiede erklärt. Dabei verbindet Riboulet die retrospektive Analyse mit dem Versuch, die Gefühle und den Verständnishorizont des 12- bis 18-Jährigen zu rekonstruieren.
Indem der junge Mann sich früh seiner Homosexualität bewusst wird, die zu jener Zeit noch partiell unter Strafe stand, diese heftig auslebt, an verschiedenen Protestaktionen teilnimmt und in Italien mit einem zehn Jahre älteren Sympathisanten der Roten Brigaden zusammenlebt, bilden das Politische und das Private auf ganz natürliche Weise eine Einheit, die als solche nicht einmal thematisiert zu werden braucht.
Der Stil ist knapp, prägnant, mitunter fast telegrafisch, und der Autor schreckt nicht zurück vor der detaillierten Beschreibung oft heftiger gelebter Sexualität. Damit schafft er ein Buch, das eindringlich eine wesentliche Phase der politischen Entwicklung Europas in Erinnerung ruft und dabei das Gewaltmonopol des Staates noch einmal zumindest partiell in Frage stellt.