Matthew B. Crawford: "Die Wiedergewinnung des Wirklichen. Eine Philosophie des Ichs im Zeitalter der Zerstreuung"
Übersetzt von Stephan Gebauer
Ullstein Verlag, Berlin 2016
430 Seiten, 24,- EUR
Zu Knopfdrückern degradiert
Der Philosoph Matthew Crawford kritisiert Technologien, die uns die sinnliche Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit abnehmen. Allerdings haben seine Gegenbeispiele etwas Retrohaftes, verweisen sie doch auf Handwerk und Tradition.
Einen Tag in der Woche unterrichtet der Philosoph Matthew Crawford an der Universität von Virginia, vier Tage betreibt er seine Motorradwerkstatt. Das erklärt die Besonderheit dieses Buches: die Gedanken von Descartes, Nietzsche oder Kierkegaard werden hier konkret. Crawfords Gegenstand sind nicht die Gedanken anderer Denker, sondern die Dinge dieser Welt: Spielzeug, Automobile, Shopping Malls, Comics.
Matthew Crawford kritisiert eine Technologie, die uns die sinnliche Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit abnimmt und zu Knopfdrückern degradiert. Das beginnt mit den "Lerntischen" für Krabbelkinder, an denen die Kleinsten ihr Weltwissen nicht an Widerständen gewinnen, sondern nur lernen, wenn ich einen Knopf drücke, passiert etwas Angenehmes.
Und es endet beim "Internet der Dinge", in dem wir nur mehr Insassen einer Umgebung sind, die uns tendenziell alles Handeln, Entscheiden und Kaufen abnimmt.
Entmündigende Automatisierung
Dass diese Entwicklung vom konsumistischen Kapitalismus getrieben wird, setzt der Philosoph als so selbstverständlich voraus, dass er sich damit kaum aufhält. In kurzen theoriehistorischen Abschnitten parallelisiert er die Tendenz zur entmündigenden Automatisierung mit philosophischen Traditionen der Neuzeit, etwa dem objektlosen Willensbegriff Kants.
So korrigiert er gängige Begriffe von liberaler "Freiheit" und "Individualismus": Zu freien, also handlungsmächtigen Menschen werden wir nur durch eine vorgängige Unterwerfung unter die Eigengesetzlichkeit der Welt, die wir vorfinden.
Nur wenn wir der Maserung des Holzes folgen, werden wir gute Tischler; nur wenn wir die Tradition in uns aufgenommen haben, können wir sie überwinden, nur in Beziehung zu anderen werden wir zu etwas Besonderem.
Handlungsmacht gewinnen
Das ist ein Gedanke, der die Verkopfung der Erziehung kritisiert, Üben über bloßes Wissen setzt, Kooperation über Autonomie und der politische Konsequenzen hat. Wenn Freiheit heißt: Handlungsmacht über unsere Umwelt zu gewinnen, dann berauben uns die stumpfsinnige Automatisierung von Vorgängen oder die virtuellen Erfahrungen nicht nur menschlicher Möglichkeiten, sondern auch der Fähigkeit, Freiheit zu praktizieren.
Crawfords Gegenbeispiele stammen aus dem Handwerk: der Arbeit von Mechanikern oder Glasbläsern etwa. Aber dieser Rückgriff auf vortechnische Praktiken ruft nicht zur Flucht in alternative Welten auf, sondern begründet einen Standpunkt, von dem aus die Enteignungen unserer Sinne und unserer Verfügungsmacht kritisierbar werden.
Ein leiser, rebellischer Konservatismus durchzieht das Buch. So führt Matthew Crawford seine Leser in die Werkstatt von Orgelbauern, die mit Bauanleitungen des 18. Jahrhunderts eine Perfektion erzielen, die von neueren Orgeln nicht mehr erreicht wird. Das ist ein scheinbar abgelegene Nischenwelt.
Aber der Gedanke, dass die produzierende - und die politische - Menschheit schon einmal Qualitäten erreicht hat, die wieder verloren gegangen sind, kann anstiften, die Macht über die Produkte des Handelns wieder in die eigenen Hände zu nehmen.