Matthew Desmond: "Armut"

Strukturelle Unmoral

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Buchcover zu "Armut. Eine amerikanische Katastrophe" von Matthew Desmond
© Rowohlt

Matthew Desmond

Armut. Eine amerikanische KatastropheRowohlt Taschenbuch Verlag, 2024

320 Seiten

18,00 Euro

Von Kim Kindermann |
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„Die USA sind das reichste Land der Erde“, schreibt der Soziologe Matthew Desmond, „aber mit mehr Armut als jede andere Demokratie“. Wie das sein kann, davon erzählt er in seinem faktenreichen wie aufrüttelnden Buch.
In neun Kapiteln und auf gerade mal knapp 200 Seiten trägt Matthew Desmond, Soziologe an der Princeton University, nicht nur alles zusammen, was diese große, schreckliche Armut in den USA ausmacht, sondern er zeigt auch Auswege aus dem Dilemma.
Erst wenn „diejenigen von uns, die im Wohlstand leben, den Blick auf sich selbst richten“, kann sich etwas ändern. Denn ihr Leben werde mit Hilfe von Subventionen und Steuertricks zwar besser, aber das gehe zu Lasten der Armen. Ihnen wird dadurch Geld vorenthalten. Geld, das sie brauchen. Denn Armut, das zeigt Desmonds scharfe Analyse, die er mit einer Fülle an Daten und Fakten untermauert (ein Drittel des Buches macht den Anhang aus!), ist nicht das Ergebnis einer selbst verschuldeten Misere, sondern das Ergebnis von mangelnder Teilhabe.

38 Millionen US-Amerikaner in Armut

Da ist der alleinerziehende Vater, der Doppelschichten am Hafen macht, trotzdem nicht genug verdient, und dem man seine Kinder wegnimmt, weil er – um mit der Müdigkeit und den Schmerzen fertig zu werden – Speedballs schluckt. Oder da ist die 18-jährige Crystall, die in mehr als 25 Familien und Einrichtungen gelebt hat, weil ihr Vater drogenabhängig war und der neue Mann ihrer Mutter sie sexuell missbrauchte.
Sie sind zwei von 38 Millionen Menschen in den USA, die dauerhaft nicht genug Geld für Essen und angemessen Wohnraum haben. In den USA sind derzeit mehr als eine Million schulpflichtiger Kinder obdachlos. Mehr als zwei Millionen Amerikaner haben zu Hause kein fließendes Wasser.
Dabei sind die Sozialausgaben im Laufe der Jahre immer weiter gestiegen. Das Geld, so Desmond, kommt aber selten direkt bei den Armen an. Der Bundesstaat Mississippi etwa finanzierte Gospelsänger, Dienstwagen und Vorträge mit dem Geld für Arme.

Der Niedergang der Gewerkschaften

Eine der Hauptursachen für Armut sieht der Soziologe im Niedergang der Gewerkschaften. Nur noch rund 10 Prozent aller Arbeitnehmer sind gewerkschaftlich organisiert. Das führe zu einem fehlenden Mindestlohn und dazu, dass Konzerne, die Arbeitsschutzgesetze konsequent beugen und etwa die Bildung von Betriebsräten mit Kündigung verhindern.
Der Soziologe schaut weit und gräbt tief: Dabei kommen Bebauungspläne wie Schrottimmobilien, die zu horrenden Mieten an Arme vergeben werden und dann zwangsgeräumt werden, genauso vor wie Banken, die Millionen Dollar an Überziehungszinsen einziehen.

Parallelwelten entstehen

Im Ergebnis entstehen Parallelwelten, die neben den tatsächlichen Missständen auch gefüttert werden von Klischees. Auch sie finden sich in diesem wichtigen und klugen Buch. Die wichtigste ist die Mär, dass Sozialhilfe der Arbeitsmoral schade. Falsch! „Der amerikanische Staat gibt denjenigen am meisten, die es am wenigsten benötigen.“ 
Das führe zu einer "strukturellen Unmoral", wie der Autor es nennt. Einige Menschen werden immer reicher, koppeln sich von staatlichen Leistungen ab und habe immer weniger Interesse, sie zu finanzieren. In der Folge verfallen Sozialwohnungen, staatliche Bildung und öffentlicher Nahverkehr. Das ist: „Sozialismus für die Reichen, Marktwirtschaft für die Armen“.
Erst wenn alle Menschen sich wieder für das Gemeinwohl einsetzten und bereit sind, dafür zu zahlen, kann diese amerikanische Katastrophe ein Ende finden. Daran lässt Mathew Desmond keinen Zweifel. Sein Buch ist ein moralischer Appell an eine Welt, in der viele ihren Kompass verloren haben und etwa Paypal-Mitbegründer Peter Thiel sich eine Altersversorgung von 5 Milliarden Euro zurücklegen kann, ohne dafür Steuer zu zahlen. Ein wichtiges Buch!
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