Matthias Bormuth: Die Verunglückten. Bachmann, Johnson, Meinhof, Améry
Berenberg Verlag, Berlin 2019
248 Seiten, 25 Euro
Denken und Schreiben mit tödlicher Konsequenz
12:10 Minuten
Sie schrieben im Schatten des Holocaust und hielten ihr Leben nicht aus: In seinem Buch "Die Verunglückten" zieht Matthias Bormuth Vergleiche zwischen Ingeborg Bachmann, Uwe Johnson, Jean Améry und Ulrike Meinhof.
Joachim Scholl: Was haben die Schriftsteller Jean Améry, Uwe Johnson, Ingeborg Bachmann und die Journalistin und RAF-Terroristin Ulrike Meinhof gemeinsam? Alle vier finden sich jetzt versammelt in dem Buch "Die Verunglückten". Geschrieben hat es Matthias Bormuth, Professor für Ideengeschichte an der Universität Oldenburg. Er ist im Studio, guten Morgen!
Matthias Bormuth: Guten Morgen!
Selbstmörderisches Denken in der Moderne
Scholl: Sie sind von Haus aus studierter Mediziner, Herr Bormuth, haben sich mit medizinethischen Arbeiten als Geisteswissenschaftler profiliert und sich in dem Zusammenhang auch mit dem suizidalen Denken, dem selbstmörderischen Denken in der Moderne beschäftigt. Ist das die Spur, Herr Bormuth, die Sie zu diesen vier Verunglückten geführt hat?
Bormuth: Ja, genau das ist sie. Das fing an um 2008, als ich meine große Habilitationsarbeit schrieb und ein Thema suchte, was auch in der Medizin möglich wäre. Und Ingeborg Bachmann, Uwe Johnson, Jean Améry waren mir als Autoren schon längere Zeit bekannt, und ich merkte, die verbindet eine Konsequenz, die ins Suizidale geht, im Denken und Schreiben, die ich damals schon versucht habe, wissenschaftlich ein Stück aufzuarbeiten und zu verstehen.
Und Jahre später kam dann eine Arbeit zu Ulrike Meinhof dazu, die bei der Studienstiftung gewesen war, und ihre Briefe und Semesterberichte regten mich an, zu fragen: Was ist mit dieser Terroristin eigentlich in ihrer Jugend gewesen? Auch so ein kluger Kopf, und ich habe auch zu ihr eine Art Kasuistik geschrieben und anschließend gemerkt, dass sie als Geisteswissenschaftlerin, die Terroristin und Journalistin war, zu diesen drei Schriftstellern doch sehr gut passt.
Schreiben nach dem Holocaust
Scholl: Jean Améry, der Auschwitz-Überlebende, nahm sich das Leben. Ingeborg Bachmann starb an den Folgen eines Brandunfalls, Uwe Johnson war am Ende ein schwerer Trinker, bis das Herz dann nicht mehr mitgemacht hat. Und Ulrike Meinhof beging im Gefängnis Selbstmord. Wenn wir sie erst mal aussparen, Ulrike Meinhof, was sind denn zunächst die Parallelen dieser literarischen, dieser Schriftstellertragödien. Gibt es da gemeinsame Züge, Merkmale, auf die Sie so gestoßen sind?
Bormuth: Ja, ein wichtiger Zug ist, dass sowohl Bachmann als auch Johnson sowie Jean Améry sich natürlich an dem großen Unglück, dem Zivilisationsbruch, wie Hanna Arendt schreibt, dem Holocaust, in ihrer Arbeit entzünden und von diesem Unglück her schreiben, aber auch ihre biografischen Unglücke mit in dieses geschichtliche Unglück hineinziehen in ihrem großen Werken und ein Amalgam herstellen zwischen privater und kollektiver Unglücksgeschichte, die eben auf verschiedene Weise bis hin zur suizidalen Handlung führt.
Scholl: Sie sprechen aber auch an einer Stelle von säkularisierten Passionsgeschichten. Was ist das für ein Tableau, das ja quasi religiös untermauert ist?
Bormuth: Ja, das ist ganz auffällig, dass die Schriftsteller der Moderne, die an sich keine Gläubigen sind, in ihrem Schreiben bestimmte Passionsmotive übernehmen, die ursprünglich jüdisch-christlicher Herkunft sind, ohne es in diesem Sinne wissen zu müssen. Das heißt, in einer Zeit, die nicht mehr religiös ist, wird von Schriftstellern das Passionsmotiv aufgenommen, denn das Leiden in der Welt existiert ja weiterhin. Und ihre Werke demonstrieren sozusagen, wie man mit Leiden umgehen kann, und versuchen, Antworten auf das Leiden zu finden, die oftmals nur eine ästhetische Bannung sein können.
Jean Améry: Persönliches und historisches Unglück
Scholl: Wir können hier jetzt nicht alle vier Biografien wirklich entfalten, Herr Bormuth. Bei Ingeborg Bachmann könnte man noch einen weiteren Verunglückten mit hinzurechnen, nämlich Paul Celan. Mit dem Autor der "Todesfuge" verband sie eine schmerzhafte, tragische Liebe. Und Paul Celan beging auch Selbstmord, er ertränkte sich 1970 in Paris in der Seine. Welche Rolle spielten die anderen in diesem Drama, in diesen Dramen, gerade Paul Celan für Ingeborg Bachmann?
Bormuth: Er war die entscheidende Figur, weil sich bei ihm sozusagen das geschichtliche Unglück mit dem persönlichen Unglück zusammentat und zudem noch die große Liebe zwischen Bachmann und Celan, die in wenigen Momenten glücklich verlief, dazukam. Das heißt, in Paul Celan hatte Bachmann ihre Lebensliebe, sie hatte das jüdische Unglück, und sie hatte das persönliche Unglück der Person Paul Celans und konnte ihr eigenes unglückliches Leben in ihm spiegeln und sich verstehen mit ihm. Und ihre gegenseitigen Gedichte sind auch Ausdruck dieses gegenseitigen Verstehens.
Scholl: Um dann aber auch wieder zum nächsten tragischen Menschen, nicht tragisch, aber doch komplizierten Menschen zu schlittern, zu Max Frisch.
Bormuth: Ja, das ist eine List der Vernunft, könnte man fast sagen, dass sie im Grunde bei einem Literaten, einem Schweizer Literaten, als Geliebte landet und nach drei Jahren von ihm getrennt wird, er zieht aus. Eine ganz unglückliche Beziehung, die aber nie die Höhe hatte, die das Verhältnis zu Paul Celan für Ingeborg Bachmann besaß.
Uwe Johnson: Entwurf eines idealen Gegenübers
Scholl: Und bei Uwe Johnson spielte auch eine Liebesehegeschichte unglückseligst hinein, muss man sagen. Ein Seitensprung seiner Ehefrau wuchs sich ja zu einer Lebens- und Schaffenskrise aus. Was war mit diesem so hochsensiblen Schriftsteller los?
Bormuth: Ich glaube, Uwe Johnson hat aus einer Vorstellung einer idealen Zweierbeziehung heraus geschrieben. Die Welt als solche, sozusagen das falsche Leben, und es gibt eine Möglichkeit des inneren, ehelichen Dialogs, der herausragt aus der schlechten Welt. Und als dieses Vertrauensverhältnis, so wie es sich Johnson vorstellte, dieses Bild zerbrach, zerbrach für ihn die Grundlage seines Schreibens. Er hat sich mühselig zurückgearbeitet, um in seiner Protagonistin der "Jahrestage", Gesine, ein neues Bild eines virtuellen Gegenübers zu entwickeln.
Scholl: Bei dieser Geschichte denkt man beim Lesen unwillkürlich, ach Gott, hätte die Frau doch bloß den Mund gehalten, dann wäre es vielleicht nicht so tragisch ausgegangen.
Bormuth: Ja, also, unsere Aufgabe ist es ja nicht, die Geschichte neu zu schreiben, unsere Aufgabe ist es ja, ein Stück zu verstehen. Und sicherlich sind beide hochmoralische Persönlichkeiten gewesen, die aber auch an ihren Idealen zerbrochen sind, könnte man sagen.
Tragik eines angekündigten Freitods
Scholl: Sie sprachen vorhin, Matthias Bormuth, vom "Zivilisationsbruch" der Nazizeit, des Massenmords, des Völkermords, der für die drei Schriftstellerbiografien so wesentlich war, für Jean Améry war es natürlich das Entscheidende. Und sein Suizid, er sieht fast aus wie ein Fanal, wie ein Zeichen: am Ende doch. Sie zitieren an einer Stelle diesen sarkastischen Spruch von ihm - er hat ja über den Selbstmord auch geschrieben, und dann hat man etwas flapsig gesagt: Wann bringen Sie sich denn dann um, Herr Améry? Und er sagte dann: Nur Geduld.
Bormuth: Ja, er ist wirklich eine tragische Figur, weil er zuerst, als er sein erstes Buch, "Jenseits von Schuld und Sühne", schrieb, an die Versöhnung zwischen Tätern und Opfern glaubte, auch selbst ein Prophet der Versöhnung sein wollte. Dies klappte so nicht, die Bundesrepublik ist ein Land geblieben, in dem die Aufarbeitung zumindest schwierig war. Er hat dann später versucht, auch als Romanautor zu reüssieren, was ebenfalls nicht gelang.
Und so ist sein spätes Buch über den Suizid "Hand an sich legen – Diskurs über den Freitod" zum einen ein Versuch, nochmals Erfolg zu haben als Essayist, aber auch eine Art Bilanzziehung der Unmöglichkeit, als Romanautor zu reüssieren. Das ist auch das Tragische, dass sich beide Motive - das Unglück des Holocaust wie auch das Unglück, kein wirklicher Schriftsteller zu sein in diesem literarischen Sinne - bei ihm verbinden.
Ulrike Meinhof: Stufenweise in die Radikalität gerutscht
Scholl: Kommen wir zu Ulrike Meinhof, zur "Skizze einer Verunglückten", wie Sie das Kapitel in Anlehnung an einen Johnson-Text überschreiben. Bei ihr, sagen Sie, sei der Graben, der Ulrike Meinhof als spätere Terroristin von den drei Schriftstellern trennen würde, kaum überbrückbar. Sie haben dennoch eine Brücke geschlagen, was für eine Verbindung haben Sie entdeckt? Ist es nicht auch wieder dieser "Zivilisationsbruch", über den Ulrike Meinhof, glaube ich, auch viel nachgedacht hat und an dem sie verzweifelt ist?
Bormuth: Absolut! Sie kommt aus der Familie eines protestantischen Opportunismus, der Vater war Kunsthistoriker, hat sich angepasst im Dritten Reich, aktiv. Sie hat in ihren Studienjahren versucht, soweit es geht auch den Antifaschismus, durchaus in Nähe zur ehemaligen DDR, zu pflegen, Aufklärung zu treiben. Sie war brillante Studentin, Journalistin der Zeitschrift "Konkret" und ist dann immer tiefer in eine Radikalität gerutscht, stufenweise, könnte man sagen, je nachdem in welcher Gruppe sie sich befand, die eben Gerechtigkeit jetzt herstellen wollte, die Umkehrung der Verhältnisse.
Auch die antiamerikanische Stimmung aufgrund von Vietnam, die zum Teil nachvollziehbar war, waren Motive für sie, zu sagen: Es reicht nicht, zu schreiben - was sie brillant konnte -, wir müssen etwas tun. Und in dem Zusammenkommen mit Gudrun Ensslin und Andreas Bader, ist sie dann tatsächlich - als sie diese letzte Stufe übersprang und nicht mehr zurückkonnte - zu der geworden, die ihre moralische Konsequenz in einer terroristischen Konsequenz ausgelebt hat, bis hin zur Selbstzerstörung.
Scholl: Der Sprung ist wortwörtlich zu nehmen, der Sprung aus dem Fenster bei der ominösen Befreiung von Andreas Bader, wo sie die Chance gehabt hätte, zu bleiben, und dann wäre auch alles anders gewesen. Das ist Spekulation. Sie, Matthias Bormuth, haben gerade bei Ihrer Biografie eine bislang unbekannte Quelle ausgewertet bei Ulrike Meinhof. Was haben Sie da gefunden?
Bormuth: Ja, es sind die 2016 veröffentlichten Berichte der Studentin an die Studienstiftung, die minutiös darstellen, wie sie als Studentin Karl Jaspers, Martin Buber, die Dialogphilosophie gelesen hat, später zu Adorno kam, und zeigen, in welcher Weise sie eine genaue Geisteswissenschaftlerin war, die philosophisch gefragt hat - und die auch Ambivalenzen hat, ästhetischer Art. Das heißt, eine hochaufgeweckte, mit allen Widersprüchen der Wirklichkeit wissenschaftlich und literarisch vertraute Persönlichkeit, die am Ende ihres Lebens, das ist das Tragische, innerhab der RAF ihre wirklich genuine Ambivalenz intellektuell nicht mehr ausleben konnte, das heißt dort gedrängt war, eindeutig aufzutreten – was sie wollte, was aber ihr nicht ganz entsprach.
Geschlossener Zirkel ohne Widersprüche
Scholl: Ich habe mich in dem Zusammenhang auch erinnert an die bewundernden Worte, die der verstorbene Herausgeber der "FAZ", Joachim Fest, nun bestimmt kein Mensch, der des linken Denkens verdächtig ist, gerade über Ulrike Meinhof geäußert hat. Wie er so gesagt hat: Was für ein brillanter Geist eigentlich in dieser Frau steckte. So wie Sie es erzählen, Matthias Bormuth, ist auch ganz fatal gewesen diese Konstellation: Gudrun Ensslin, Andreas Bader, Ulrike Meinhof, in der sie erst mal ihre Intellektualität gar nicht ausleben konnte, sondern plötzlich in einer Art von brutalem Machismo-Ambiente war, aus dem sie sich nicht befreien konnte.
Bormuth: Ja, vor allem war es die Geschlossenheit der Kommunikation, kann man sagen. Sie hat immer vorher Zirkel gehabt, in denen sie lebte, verschiedener Art, die offen waren, in denen sie auch andere Meinungen vertreten konnte, wieder ausbrechen konnte. Und dieser Zirkel war, nachdem sie RAF-Terroristen waren, von außen bedrängt waren, innerlich zusammenstehen mussten, ein geschlossener Zirkel, in dem es nicht möglich war, Ambivalenzen, Widersprüche geltend zu machen – und in dem natürlich auch die innere Hetze, kann man sagen, gegen die bürgerlichen Restbestände extrem scharf war, so dass sie sich am Ende marginalisiert fühlen musste.
Scholl: Matthias Bormuth, vielen Dank für dieses Gespräch.
Bormuth: Vielen Dank auch.
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