Matthias Brandt: Raumpatrouille
Erzählungen
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016
176 Seiten, 18 Euro
Kanzler-Sohn wird literarisch noch mal Kind
Voller Lust zum Detail erinnert sich der Schauspieler Matthias Brandt mit "Raumpatrouille" an seine Kindheit in den 1970ern. Die 14 präzisen Erzählungen werden von einem spannenden Thema zusammengehalten: Was bedeutet es, der Sohn eines populären Bundeskanzlers zu sein?
"Keiner da." So lautet der erste Satz von Matthias Brandts schmalem Erzählungsband "Raumpatrouille". Das Haus steht leer, die Tage verlaufen träge. Ein Junge entdeckt sein Verhältnis zur Welt. Und das bedeutet in einer westdeutschen Kindheit im Bonn der 70er-Jahre: Zeit zu überbrücken, Raum zu füllen.
Dementsprechend lassen sich die 14 Geschichten, die der Schauspieler Brandt in seinem Prosa-Debüt zu einer sachten Coming of Age-Geschichte kompiliert hat, als Kataloge bundesrepublikanischer Innenausstattung im anbrechenden Medienzeitalter. "Percy Stuart" und Wim Thoelke, Jinglers-Jeans und Bonanza-Rad – die Erinnerung hört auf Namen, die für in etwa gleichaltrige Leserinnen wie Prousts Madeleine funktionieren. Sie öffnen die Türen zum "So war es" und "Das kenn ich".
Brandt ist ein anschaulicher und präziser Erzähler, der die idiosynkratische Weltsicht eines Jungen, in dessen Kopf noch Unordnung herrscht über die Lage der Dinge, anschlussfähig macht an jedermanns Erinnerungen. Der Verzehr einer Currywurst bei einem Imbiss mit dem Rätsel aufgebenden Namen "Frittenpitter" endet mit einer verbreiteten kindlichen Kulturtechnik: "Die Pappschale noch in der Hand, zeichnete ich mit der kleinen gelben Plastikgabel Männchen in den zähen Soßenrest."
Sehnsüchte und Spinnereien
Weil Matthias Brandt aber nicht nur ein bekannter Schauspieler ist, sondern auch der Sohn von Willy Brandt, siedelt die Lektüre von "Raumpatrouille" in einem besonderen Spannungsfeld. Die Sehnsüchte und Spinnereien, das versuchte Briefmarkensammeln und desaströse Fußballspielen mögen Allerweltserfahrungen sein – das Umfeld, in dem sie gemacht werden, ist sehr eigen. Die endlosen Nachmittage der Kindheit werden in "Raumpatrouille" nicht nur von Haushaltshilfe und Au-pair-Mädchen gesäumt, sondern auch von Polizisten und Personenschützern, und wenn Mutter (häufiger) oder Vater (nicht so häufig) aufgerufen werden, dann erscheinen vor dem Auge der Leserin unweigerlich die Bilder von der First Lady mit den norwegischen Wurzeln und dem populären SPD-Bundeskanzler.
"Keiner da." Mit Blick auf den berühmten Vater klingt der erste Satz des Buches auf andere Weise nach. Die Abwesenheitsnotiz überschattet alle Erzählungen. DKanzlas Buch ist nicht nur auf den schrägen Wirklichkeitsbegriff eines Acht-, Neun-, Zehnjährigen aus, sondern es sucht Nähe zu dem Mann aus dem Geschichtsbuch. Die kürzeste Erzählung in der Mitte des Bandes ist als einzige im historischen Präsens geschrieben, sie beschreibt die, in der Chronologie des Buchs, erste gemeinsame Unternehmung der Familie, einen Jahrmarktbesuch, der hier aber allein repräsentativen Zwecken dient und deshalb den bezeichnenden Titel "Die anderen" trägt.
Weg zum versöhnlichen Ende
Der Weg zum versöhnlichen Ende führt über Katastrophe und Verrat: In "Blau, gelb und weiss" steckt der Junge beim Proben seines Zauber-Programms sein Kinderzimmer an, in das er als quasi als Jugendlicher zurückehrt. Und in "Nirgendwo sonst" fühlt er sich für einen Moment viel zu wohl bei Freund Holger, in der Wohnung von ganz normalen Leuten, wo die Familie gemeinsam Fernsehen guckt. Das letzte Kapitel, "Was ist", vertreibt diese Gespenster schließlich – mit einer in Brandts Lust an staunenden Detail zwar auch grotesken, aber sehr liebevollen Szene zwischen Vater und Sohn.