Leben und Überleben in Berlin
Wie ein Albtraum geistert der Anschlag vom Breitscheidplatz durch den neuen Roman von Matthias Nawrat. Ein Mann streift durch Berlin, voller Wut und Traurigkeit. In Gesprächen und Begegnungen sucht er Antworten auf die großen Fragen von Leben und Tod.
Andrea Gerk: Matthias Nawrats dritter Roman heißt "Der traurige Gast", und in diesem Buch streift ein namenloser Erzähler durch Berlin. Er kauft geraspelte Gurken im polnischen Laden, lauscht Gesprächen beim Friseur und besucht eine Zeit lang die alte polnische Architektin Dorota, die ihm ihre Lebensgeschichte erzählt. Später, nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt, der wie ein Albtraum durch das Buch geistert, arbeitet der Erzähler mit Dariusz, der einmal Chirurg war, an einer Tankstelle. Matthias Nawrat ist jetzt bei mir im Studio. Hallo, schön, dass Sie da sind!
Matthias Nawrat: Hallo, guten Morgen!
Gerk: Ihr Roman ist irgendwie schwer nachzuerzählen. Das haben Sie schon gemerkt wahrscheinlich bei meiner Vorstellung. Ich finde, das spricht unbedingt für einen Roman, wenn man ihn nicht gut nacherzählen kann. Der Text ist dafür ungeheuer dicht, so atmosphärisch und ergreifend auch. Können Sie denn zusammenfassen, worum es in Ihrem Buch geht?
Nawrat: Also ich kann eigentlich nur zusammenfassen durch Aufzählen auch. Ich habe jetzt gemerkt, als Sie das versucht haben zusammenzufassen, dass es ja wie eine Aufzählung ist. Das liegt wahrscheinlich schon auch an dieser Grundstruktur des Romans, dass es einen Erzähler gibt, der verschiedene Erzählungen und verschiedene Begegnungen so organisiert um einen Kern herum. Deswegen, ich kann den Inhalt von der Form nicht trennen. Wenn ich aber diese Form dieses Romans dazunehme, dann wird es eben auch komplex, aber ich finde, ich höre mir das immer sehr gerne an, so die Zusammenfa… oder die Versuche der Zusammenfassung!
"Das hat schon mit meinem ganz privaten Bezug zu der Stadt zu tun"
Gerk: Der Erzähler, der streift ja durch Berlin, durch den Wedding, wo Sie, soweit ich weiß, auch wohnen. Er ist auch Schriftsteller, er kommt auch ursprünglich aus Polen wie Sie, aber trotzdem ist es kein autobiografisches Buch. Sind das dennoch Orte, die Sie auch aufsuchen, die Ihnen vertraut und geläufig sind?
Nawrat: Ja, ich glaube, das ging auch ursprünglich von so eigenen Begegnungen mit der Stadt aus, also der Schreibprozess. Im Grunde genommen ist das ja für mich eine neue Form, die ich bisher noch nicht irgendwie ausprobiert hatte, aber ich habe dann irgendwann festgestellt nach meinem dritten Roman – also, das ist ja mein vierter Roman, ich muss Sie leider berichtigen –, aber nach meinem dritten Roman habe ich festgestellt, ich kann nicht mehr so schreiben wie bisher, und dann habe ich erst mal angefangen Tagebuch zu schreiben, und irgendwie aus diesem Tagebuchschreiben, bei dem man ja beobachtet, aber auch schon zum Teil dazuerfindet und so weiter, ist dann irgendwie diese Form entstanden.
Deswegen aber hat es schon auch mit meinem ganz privaten Bezug zu der Stadt zu tun. Ab irgendeinem Moment habe ich dann aber natürlich angefangen, das zu fiktionalisieren, um diese Form literarisch zu einer Romanform zu machen, aber zugrunde liegt dem Ganzen natürlich so meine eigene Begegnung mit der Stadt oder die Begegnungen mit Menschen in dieser Stadt.
Gerk: Und da entdeckt man ja in dem Buch auch Seiten, die man selbst oder die ich jetzt so gar nicht kannte, dieses polnische Berlin. Also da gehen Sie, in der Nähe der Hasenheide geht der Erzähler in ein Lokal oder er trifft diese polnische Architektin. Ist das eine Welt für sich?
Nawrat: Ja, das sind so… generell kann man ja sagen, in Berlin gibt es ja so viele verschiedene Lebenswelten. Also auch beispielsweise das bürgerliche Milieu oder diese verschiedenen migrantischen Milieus, die sich irgendwie berühren. Es gibt natürlich auch Austausch, aber es gibt schon auch so Räume, in die ich zum Beispiel dann gar keinen Einblick habe. In andere Räume habe ich dann Einblick, und man kann schon sagen, dass es sowas vielleicht dazwischen ist, zwischen so einer total abgeschlossenen Welt, also so halboffene Welten, die mich immer sehr faszinieren.
Beschreibung der europäischen Geisteslandschaft
Gerk: Ganz interessant ist ja auch, dass der Erzähler immer irgendwelche Gespräche anfängt oder die gar nicht unbedingt von ihm ausgehen, und man erfährt dann auch immer mehr über denjenigen, den er getroffen hat. Das ist eine ganz interessante Perspektive. Wie sind Sie da drauf gekommen? Das ist ja so ein indirektes Erzählen immer.
Nawrat: Ich habe mich natürlich immer schon gefragt, wie kann man über Dinge… oder ich glaube, die Literatur fragt sich das schon wahrscheinlich seit immer. Man kennt ja Beispiele für diese Fragestellung von verschiedenen Autorinnen und Autoren und auch verschiedene Lösungen für das Problem, aber ich frage mich immer, wie kann man etwas erzählen, was man nicht selber erfahren hat direkt, und mit dieser Frage experimentiere ich letztendlich auch schon immer. In dem Fall habe ich festgestellt, dass wenn es mir um so eine Art Beschreibung der europäischen Geisteslandschaft geht, muss das einerseits natürlich in die europäische Geschichte zurückreichen, andererseits in der Gegenwart irgendwie diese Spuren dieser Geschichte aufmachen oder aufzeigen, und da habe ich festgestellt, dass das funktioniert über dieses Erzählen. Also jemand, ein empathischer Zuhörer, der auch gar nicht mehr wegkommt, obwohl die Erzählungen oftmals ja sehr brutal oder abgründig oder auch irritierend für ihn selber sind.
Gerk: Auch für den Leser.
Nawrat: Genau, wahrscheinlich, ich nehme mal an. Und dieser Erzähler ist aber derjenige, der dem Ganzen Raum gibt und der nicht weggeht, sondern der Mitgefühl hat und nicht in der Lage ist sogar wegzugehen.
Gerk: Er hat aber ja nicht nur Mitgefühl, sondern er hat ja überhaupt ganz seltsame Gefühle. Also er stellt ständig fest, dass er Wut empfindet oder Traurigkeit, und dann will er das äußern, kann das aber gar nicht. Da ist ja so ein großes Unbehagen die ganze Zeit da, sowohl der Geschichte, die durch dieses Buch geistert, wie so ein Echoraum für die europäische Geschichte, für die Ermordung der Juden zum Beispiel, aber auch für ganz aktuelle Geschichte. Wie gesagt, der Anschlag am Breitscheidplatz weht da rein. Da gibt es eine Szene beim Friseur, wo er glaubt, irgendwelche Wörter aufzuschnappen, die vielleicht damit zu tun haben. Was ist das für ein Unbehagen?
Nawrat: Na ja, das ist, glaube ich, ein Unbehagen, das jeder irgendwie verspürt in seinem Alltag. Nur die Menschen sind ja sehr gut darin, das so zu überspielen. Ich würde vielleicht sogar so weit gehen und sagen, überhaupt, Gesellschaft ist ja ein Ordnungsphänomen, das dazu da ist, bestimmte Abgründe zuzudecken oder irgendwie zu überbrücken. Das heißt zum Beispiel die Frage, warum überhaupt leben, also gibt es sowas wie gutes und schlechtes Handeln oder ist alles erlaubt. Also solche in die Metaphysik hineinreichenden Fragen, mit denen beschäftigen wir uns ja im Alltag nicht, und das ist ja auch gesund ein Stück weit. Das ist jetzt hier, dieser Erzähler, der ist irgendwie dazu nicht so ganz in der Lage. Der lässt sich immer wieder davon sehr tief treffen, und er ist wie so eine Art, könnte man vielleicht sagen, für den Leser: er nimmt das auf sich für den Leser, der im Alltag … Leser oder generell für Menschen, die das nicht wollen und die das nicht können, und wo man auch sagen muss, also, ich bin dann jeweils auf der Seite der Menschen, weil wenn man einmal anfängt, sich damit wirklich tiefgründig zu beschäftigen, wie weit diese Fragen auch in die Gegenwart hineinreichen, dann würde man möglicherweise handlungsunfähig werden.
Transzendentale Obdachlosigkeit als Grundzustand
Gerk: Und die Menschen in Ihrem Buch sind ja auch alle irgendwie unbehaust. Also da geht es auch dauernd darum, dass man irgendwo zwar wohnt und vielleicht sogar wie die Architektin, die geht aus ihrem Viertel gar nicht mehr raus, aber gleichzeitig trotzdem so eine grundlegende Unbehaustheit oder transzendentale Obdachlosigkeit, wie man das nennt. Ist das etwas, was Sie sagen würden, das könnte man so als Generalthema in diesem Buch lesen?
Nawrat: Ja, das würde ich auf jeden Fall sagen. Das freut mich jetzt sehr, dass Sie das sagen. Ich würde sogar so weit gehen, dass das, also aus meiner Sicht zumindest ist das ein Stück weit der europäische Zustand oder der Zustand des europäischen Menschen, also weil diese ganze Geistesgeschichte Europas oder auch die Kulturgeschichte Europas, also ausgehend von der jüdischen monotheistischen Religion, dann über das Christentum, dann irgendwie der Atheismus, also die Revolte gegen Gott oder die Metaphysik und so weiter und so fort und das, was daraus auch resultiert war, also die Ideologien und so weiter, das hat ja eine tiefe … Also ich glaube, das erzeugt immer noch eine sehr tiefe Zerrissenheit in den Menschen, und ich glaube zum Beispiel, ich persönlich, dass in Momenten wie heute, wo gesellschaftliche Umbrüche wieder sehr viel Unsicherheit verbreiten, dass solche Fragen dann relevant werden. Natürlich nicht mehr in der Sprache der Religion beispielsweise, aber ich glaube, dass das schon zum Teil auch dazu führt, dass die Leute sehr froh sind, wenn ihnen jemand eine einfache Antwort anbietet und ihnen sagt, na ja, wenn wir nur das und das und das machen, dann gibt es wieder diese grundsätzliche Sicherzeit. Deswegen, dieser Roman macht das so ein bisschen auf und versucht bewusst zu machen, dass man das vielleicht nicht ganz vergessen soll, dass es diese, wie Sie sagten, transzendentale Unbehaustheit möglicherweise gibt im geistigen Zustand.
Gerk: Und Sie erzählen das, wie gesagt, wirklich sehr packend und ergreifend. Also es ist ein tolles Buch. Wir sprechen ja auch gleich noch weiter. Wir haben noch eine andere Debatte, für die Sie uns hier begleiten, Matthias Nawrat, aber erst mal vielen Dank. Ihr Roman "Der traurige Gast", der ist bei Rowohlt erschienen, hat 299 Seiten und kostet 22 Euro.
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