Matthias Weichelt: Der verschwundene Zeuge. Das kurze Leben des Felix Hartlaub
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
232 Seiten, 20 Euro
Der stille Schreiber im Zentrum des Terrorregimes
06:10 Minuten
Die Aufzeichnungen des Obergefreiten Felix Hartlaub aus der Machtzentrale des Hitlerregimes zeigen, wie Krieg und Diktatur den Menschen verändern. Matthias Weichelt hat ihm nun eine höchst anschauliche Biografie gewidmet.
"Bleib übrig!" So lautet der Berliner Gruß im Frühjahr 1945. Das wird dem jungen Obergefreiten Felix Hartlaub nicht gelingen, er verschwindet spurlos in den letzten Kriegstagen. Dabei weiß er wie kaum ein anderer, dass der Krieg seit Jahren verloren ist und welcher Todesgefahr er sich in der umkämpften Hauptstadt aussetzt.
Denn der promovierte Historiker, Zeichner und Autor arbeitete fünf Jahre lang in der Machtzentrale des Hitlerregimes, zunächst als Archivar im besetzten Paris, dann als Sachbearbeiter des "Kriegstagebuchs" der Obersten Heeresleitung in der "Wolfsschanze" in Polen, im "Werwolf" in der Ukraine und in der "Alpenfestung" in Berchtesgaden.
Was er dort sah an "Menschenfressergesichtern", an Duckmäusertum und Dummstolz, schrieb er auf. Heimlich und für die Schublade, selbst hat er so gut wie nichts publiziert.
Zeuge der Diktatur
Seine Werke - Erzählungen, Skizzen, Romanfragmente, Briefe, Kurzprosa - sind erst posthum in den 50er-Jahren veröffentlicht worden. Trotz erheblicher Auslassungen und beschönigender Eingriffe durch die Familie, ließ sich nirgendwo in solcher Klarheit lesen, wie Diktatur und Krieg die Menschen verändern.
Auf die inzwischen kritisch edierten Texte Hartlaubs stützt sich nun die neue Biografie Matthias Weichelts. Sie geht der Frage nach, ob Hartlaub, der von der Nachwelt so gerne als gegensätzliche Projektionsfigur eingesetzt wurde, "Sand" war oder ein "Rädchen im Getriebe".
Dafür zeichnet der Autor die Lebensstationen des 1913 geborenen Sohnes aus bildungsbürgerlichem Milieu nach. Er schildert ihn als zaudernden, an der Tauglichkeit für irgendein Berufsleben zweifelnden jungen Historiker mit literarischen Ambitionen, der sich lange mit mythologischen Themen herumschlägt.
Bis er in Berlin einen kommunistisch-jüdischen Klassenkameraden aus der Odenwaldschule wieder trifft, Klaus Gysi, den späteren Kulturminister der DDR und Vater von Gregor Gysi, in dessen 20 Jahre ältere Mutter er sich leidenschaftlich verliebt. Dass Hartlaub dank vieler Zufälle vom Fronteinsatz verschont bleibt - dem geht Weichelt ebenso nach wie der Rolle, die der "Mann zwischen allen Stühlen" als unauffällige Schreibkraft in "der windstillen toten Mitte des Taifuns" spielte.
Literaturhistorische Würdigung
Weichelt, Chefredakteur der Literaturzeitschrift "Sinn und Form", wo er den gegensätzlichsten Traditionen Raum gibt, von postmarxistischen Ansätzen bis zum Denken der konservativen Intelligenz, schildert das Leben Hartlaubs als zutiefst ambivalent. Souverän komponiert er Hartlaubs Texte in das zeithistorisch tiefenscharfe Parlando seiner biografischen Erzählung.
Ohne den üblichen Jargon geht der gelernte Literaturwissenschaftler deren ästhetischem Mehrwert auf den Grund. Fußnotenlos verweist er Hartlaub zitierend auf dessen literarisch avancierte Finessen - Rollenprosa, erlebte Rede, inneren Monolog - um Hartlaub als subtilen Meister der Sprachkunst zu zeigen. Und als Handelnden, der sich jenseits des Beobachterstatus selbst miteinbezieht.
Mit seiner lebendigen Sprache und atmosphärischen Schilderungen führt uns Weichelt eine bedrohlich-monströse Welt vor Augen, die verstörend nahe kommt. Wie er seinen rundum phänomenal-romanhaften Stoff auf dem schmalen Grat einer streng faktenbasierten Erzählung ausbalanciert, ist bewundernswert: der Paradefall einer höchst anschaulichen Biografie.