Nachwendekinder

Ossi ohne DDR-Vergangenheit

Im Vordergrund gießt eine junge Frau im Badeanzug das blühende Beet in einer Kleingartenanlage. Im Hintergrund unterhalten sich lachend zwei ältere Damen.
Trotz Wiedervereinigung blieben Stolz und Bewusstsein von alltäglichen Traditionen aus der Zeit der DDR. So hieß es in den Sommerferien für unsere Autorin: Ab in die Gartenlaube! © imago images / serienlicht
Von Anne Ramstorf |
Unsere Autorin ist wenige Jahre nach dem Mauerfall in Ostberlin geboren. Doch das Ereignis und die untergegangene DDR prägten ihre Kindheit dennoch entscheidend. Was sie aber erst realisierte, als sie im Westen lebte.
Meine früheste Kindheitserinnerung ist der Geschmack von Hagebuttentee aus einer Plastetasse, die sich oben am Rand rau anfühlt. Ich liebe es, meine Tage in meiner Kita, einem zweigeschossigen Flachbau, zu verbringen. Morgens bringt Papa mich hin, abends bin ich Letzte, helfe beim Aufräumen, bis Mama mich abholt und wir im Konsum, später Kaisers, einkaufen gehen.
War ich krank, wurde ich zu meinen Großeltern nach Leipzig gebracht. Meine Sommerferien verbrachte ich in ihrem Schrebergarten in Weißenfels nahe Leuna. Dort hatte ich ein schmales Zimmer direkt links neben der Eingangstür der Gartenlaube. Ich schlief auf einer Pritsche mit orangefarbenen Blumen auf braunem Grund und guckte auf einen Wandteppich mit Herrn Fuchs und Frau Elster.
Mittagsschlaf machte ich auf der Hollywoodschaukel, die ich versuchte, mit meinen Füßen zum Schwingen zu bringen. Und so kam mir meine Kindheit einfach normal vor.
Dass ich in einer Zeit eines riesigen gesellschaftlichen Umbruches aufwuchs und mein Leben geprägt ist von einem Land, das es nicht mehr gibt, begann ich erst 20 Jahre später zu realisieren.

Im Westen wurde ich zum Ossi

Es ist Herbst und ich sitze in einem Hörsaal einer süddeutschen Universität. Der Dozent versucht, das richtige Habermas-Zitat an die Wand zu werfen. Doch der Beamer streikt und es beginnt unruhig zu werden, Gespräche im Flüsterton beginnen – nicht über Habermas, sondern die Wochenendplanung.
Ich erzähle meinen Kommilitoninnen, dass ich zu meiner Familie nach Sachsen fahren werde. Eine, die einige Plätze weiter sitzt, lehnt sich in meine Richtung und fragt, ob ich Bananen gekauft habe. Ich bin irritiert. “Nein, warum?” Naja, weil man die doch in den Osten mitbringe. Eine andere nickte zustimmend und wartete auf meine Reaktion.
Erst in diesem Moment verstand ich, dass sie einen Unterschied zwischen mir und ihnen sehen. Und: Sie haben recht.

Geboren in einer Umbruchszeit

Ich wurde Anfang 1991 mitten in die Wendezeit hineingeboren. Wenige Wochen vor meiner Geburt schloss der VEB, in der mein Vater arbeitete. Auch der Konzern meiner Mutter wurde abgewickelt. Wie es bei ihr weitergehen würde, wusste niemand.
Es war eine neue Welt voller Umbruch, Unsicherheit, Neuorientierung, aber auch Neugier, Hoffnung und Freiheit. Auch wenn die Annahme viele Jahre vorherrschte, dass wir Nachwendekinder uns unmöglich als ostdeutsch fühlen können, tun es viele von uns. Denn in uns hallen die DDR und die Wende nach.

Ost vor dem Berlin

Einige Monate nach dem Bananenvorfall zog ich von Süddeutschland nach Halle. Nicht wegen des schlechten Witzes. Auch nicht wegen Kommentare wie „alle Häuser seien im Osten grau“ oder meine Mutter sei eine „Rabenmutter“, weil sie arbeitete, anstatt „daheim“ zu bleiben. Sondern um zu verstehen, wer ich bin, ohne mich erklären zu müssen.
Es mag sich nun komisch anhören, aber mittlerweile benenne ich meine ostdeutsche Herkunft klar: Stelle ich mich vor, sage ich, ich komme aus Ostberlin. Denn allein das „Ost“ vor dem „Berlin“ erzählt eine Geschichte. Einen Teil meiner Geschichte. Und es stört den Gesprächsfluss. Das ist meine Art, diejenigen, für die das „Ost“ vor dem „Berlin“ sonst keine Rolle spielt, zum Nachdenken und zum Nachfragen anzuregen.
Natürlich könnte man argumentieren, dass das „Ost“ vor dem „Berlin“ spaltet. Ich hingegen finde, dass beides existieren kann und eine ostdeutsche Identität eine gesamtdeutsche nicht ausschließt. Sondern das „Ost“ markiert Unterschiede, die es nun mal bis heute gibt: Ungleichheit beim Lohn, Erbe, Vermögen, Unterschiede in der Familienplanung und Aufgabenverteilung und vieles mehr.
Aber es verbindet auch. Meist folgt bei Ossis aus meiner Generation direkt ein sanftes Lächeln und der Hinweis, dass man aus Stralsund oder dem Erzgebirge komme.
Eine junge Frau in einem bordeauxfarbenen Blazer.
Die Autorin Anne Ramstorf© Dani Beck
Ich für meinen Teil bin dankbar, von Eltern großgezogen worden zu sein, die nach dem Mauerfall und dem ersten Schock große Lust hatten, die Welt zu entdecken und mich mitnahmen auf abenteuerliche Reisen in Länder, von deren Existenz wir teilweise erst im Reisebüro erfuhren.
Und ich bin wahnsinnig stolz auf sie, wie sie diesen Umbruch – und das auch noch als junge Eltern – gemeistert haben. Sie versuchten mir stets ein Anker und Kompass zu sein, in einer Welt und Gesellschaft, in die sie auch gerade erst hineinwuchsen.
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