Der Tag nach dem Mauerfall

Mein 9. November: Als ich zum ersten Mal im Westen war

Teile der ehemaligen Berliner Mauer sind mit Kunstwerken geschmückt. Im Berliner Bezirk Friedrichshain.
Ohne Frühstück rannte ich aus dem Haus und fuhr zum Grenzübergang Berlin-Friedrichstraße. © picture alliance / Caro / Waechter
Von Cornelia Sachse |
In der Nacht, in der die Mauer fiel, schlief unsere Autorin Cornelia Sachse in ihrer Studentenbude in Ostberlin. Als sie am nächsten Tag erfuhr, was geschehen war, machte sie sich sofort auf nach Westberlin. Hier schildert sie ihre Erlebnisse.
Ich habe die Maueröffnung herbeigesehnt, aber in meinen kühnsten Träumen nicht für möglich gehalten. Als immer mehr Menschen im Frühling und Sommer 1989 die DDR verließen, sagte ein befreundeter junger Philosoph zu mir: „Im Herbst werden wir in Berlin-Kreuzberg zusammen Kaffee trinken!“ Ich war Anfang Zwanzig und habe ihm nicht geglaubt.

Maueröffnung verschlafen

Die erste Öffnung der Grenzübergänge in der Nacht vom 9. auf den 10. November habe ich verschlafen. In meiner Studentenbude in Friedrichshain gab es kein Telefon und natürlich auch kein Handy.
Seit September 1989 war ich Studentin der Literatur- und Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität. Vier Jahre hatte ich um meinen Studienplatz gekämpft, da es in der DDR nur so viele Studienplätze gab, wie man auch Arbeitsplätze hatte. Immatrikuliert wurden für dieses begehrte Studium pro Jahr nur eine Handvoll junger Leute – sie hatten ein SED-Parteibuch, waren Professorenkinder oder Olympiasieger.
Da ich zu keiner dieser Gruppen gehörte, arbeitete ich nach dem Abi im Lektorat eines Verlages als Mädchen für alles und machte nebenbei eine Ausbildung zum „Facharbeiter Buchhändler“, wie das offiziell hieß. Eine neu eingeführte Eignungsprüfung ermöglichte mir im Herbst 1989 endlich den Zugang zu meiner Wunsch-Hochschule: die Humboldt-Uni Unter den Linden in der Nähe vom Brandenburger Tor. Ich konnte nicht ahnen, dass wir uns kurze Zeit später so fühlen würden, als wären wir der Mittelpunkt der Welt.

Geteilter Bahnhof in einer geteilten Stadt

Am Morgen des 10. November hörte ich im Radio, dass die Mauer in der Nacht geöffnet und wieder geschlossen worden sei. Die Umstände waren damals unwägbarer, als sie heute scheinen. Dass ich die Möglichkeit verpasst haben könnte, Westberlin zu besuchen, die Stadt also, mit der ich seit mehr als 20 Jahren Wand an Wand bzw. Mauer an Mauer lebte, die ich aber noch nie gesehen hatte, stürzte mich in Panik.
Ohne Frühstück rannte ich aus dem Haus und fuhr zum Grenzübergang Berlin-Friedrichstraße, der um die Ecke meiner Uni lag. Während ich noch überlegte, ob ich dieses Abenteuer allein bestehen wollte, stand ich auch schon auf der anderen Seite des Bahnhofs Friedrichstraße. Ich sah jetzt, dass er aus drei Bahnsteigen bestand, anstatt nur aus dem einen mir vertrauten, der durch eine Wand von den anderen getrennt war – ein geteilter Bahnhof in einer geteilten Stadt.

Flop Nummer eins: Stadtplankauf

Endlich rollte die S-Bahn westwärts – wie oft hatte ich gewünscht, sie würde es einmal versehentlich tun. Eine ältere Frau schenkte mir in dem überfüllten Wagen 5 DM. Unsicher verließ ich den Bahnhof Zoo. Der Kudamm war das einzig Konkrete, das ich, Berlinerin von der anderen Seite, namentlich kannte.
Das Scheppern hunderter Füße durch Lawinen leerer Bier- und Cola-Dosen, die von den Feiern der unvergesslichen Nacht zeugten, begleitete mich bis zu einem Souvenirladen, in dem ich die billigste Variante eines Stadtplans erstand. Der Verkäufer hinter der Kasse gab mir nur einige Pfennige heraus, zweifellos war ich gerade betrogen worden, denn ich war ja nun im Kapitalismus gelandet.

Flop Nummer zwei: Geldtausch

Da mir die harte Währung meiner S-Bahn-Gönnerin damit ausgegangen war, wollte ich das Geld tauschen, das ich noch in den Taschen meiner Jeans fand. Ich dachte daran, mir endlich ein Frühstück in einem der Straßenlokale zu leisten.
Ich betrat nahe dem Café Kranzler eine Wechselstube, in der es nach West-Duschgel roch. Ein gebräunter Banker mit Brillantnadel im Schlips lächelte hinter der Panzerglasscheibe mitleidig, als er meiner drei hingeblätterten Zehnmarkscheine mit dem Clara-Zetkin-Kopf ansichtig wurde. Retour erhielt ich drei Deutsche Mark und zwei orange leuchtende Campino-Bonbons.
Ich war entsetzt, wie sich meine Habe so hatte verringern können. Vielleicht sollte ich versuchen, wie die Dichterin Else Lasker-Schüler im Café des Westens der 20er-Jahre mit Süßigkeiten zu bezahlen? Resigniert fragte ich mich nach diesem zweiten Flop, was ich eigentlich hier wollte: pinkfarbene Radfahrerinnen, Doppelstockbusse und Zigarettenautomaten schienen eher dem Ambiente eines Films zu gleichen als einer mir irgendwie vertrauten Realität.

Radioführung auf Sächsisch

Dann kam mir ein rettender Einfall. Ich fuhr zu einem Radiosender, der damals mein akustisches Zuhause war. Es war der alternative Privatsender Radio 100 in der Potsdamer Straße in Berlin-Schöneberg. Dort machten junge Leute in Eigenregie legendäre Sendungen mit Namen wie „Morgengrauen“, „Kunstrausch“ und „Dissonanzen“.
Ich klingelte an der Tür und wurde – zusammen mit anderen Ostberlinerinnen und Ostberlinern – eingelassen. Die junge Frau, die uns geöffnet hatte, war eine der Moderatorinnen. Ich erkannte sie sofort an ihrer Stimme. Sie führte uns durch die Räume mit besprayten Wänden und chaotisch überladenen Schreibtischen. Während ihrer Führung fiel sie in einen sächsischen Dialekt, was lustig sein sollte. Es war das West-Klischee, dass alle Ossis sächsisch sprechen.
Zusammen mit einem jungen Mann wurde ich ins Studio gebeten und gefragt, ob ich glaube, dass das wiedervereinigte Deutschland bald wieder faschistisch werden würde. Andere fragten mich, ob ich mit ihnen an die Mauer fahren würde. Sie fänden es so cool, wenn ich ihnen ins Mikro sagen würde, dass ich die Maueröffnung Scheiße finde.
Mein geliebtes „Radio 100“ bröckelte vor meinen Augen zu einem Haufen arroganter Westberliner Hipster, hätte mich nicht eine junge Frau, die am Kopierer stand, angelächelt und gesagt: Du siehst so aus, als brauchst du erstmal ein Frühstück!

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Wir fuhren zusammen in ihre Studentenwohnung in Kreuzberg. Dort konnte ich das erste Mal an diesem Tag durchatmen und realisieren, was gerade geschah. Am Abend ließ sie sich in die Gegenrichtung mit den Massen treiben. Sie übernachtete bei mir in Friedrichshain. Und am nächsten Morgen rief ich nach ihr ins Nebenzimmer: Bist du noch da oder habe ich das alles nur geträumt?

Unsichtbare Sehenswürdigkeiten

Für mich gab es kaum einen besseren Ort als die Humboldt-Uni, um diese aufregenden Tage zu erleben. Während meine früheren Verlagskolleginnen und -kollegen um ihren Arbeitsplatz fürchten mussten, wenn sie eine Resolution des Neuen Forums, das später in Bündnis 90/Die Grünen mündete, zum Sturz der Regierung unterschrieben, waren wir in unserer Entfaltung ganz frei.
So oft ich konnte, erkundete ich mit meiner neuen Westberliner Freundin, die ich am Tag des Mauerfalls kennengelernt hatte, die jeweils andere Stadthälfte. In einem Café in Prenzlauer Berg versuchte ich ihr zu erklären, was Ostberlin für mich ausmachte. Dass die Gerüche der Hinterhöfe Erinnerungen bargen, die diese Hälfte letztlich für mich farbiger malten.
Cornelia Sachse vor mit Herbstlaub umrahmten Zaun.
Der Mauerfall ist für sie immer noch ein Grund zum Feiern, sagt Cornelia Sachse.© Privat
Ich machte mit ihr eine Sightseeingtour der unsichtbaren Sehenswürdigkeiten: dass ich in jener Kirche mein erstes Punkkonzert erlebte, dort hinter diesen Fenstern eine private Galerie existierte. Dass wir hier zwei Nächte lang ein kritisches Buch gedruckt und dort auf dem Dachboden einst eine exzessive Party lief. Hier im vierten Stock eine heimliche Bar und dort die Wohnung des jungen Philosophen als ein unendlicher Gesprächsraum.
Umgekehrt nahm sie mich mit in die Caféteria des Telefunken-Hochhauses der TU in Tiergarten, wo sie studierte und mit ihren Freundinnen und Freunden gerade einen großen Studentenstreik organisiert hatte. Und sie zeigte mir die „Garage“, wo man verrückte gebrauchte Klamotten nach Kilo bezahlte. Ich reiste zu ihr mit S- und U-Bahn in ein entferntes Ausland und lag abends wieder glücklich in meinem eigenen Bett.

Wende, Alltag und Liebeskummer

Meine Kommilitoninnen, Kommilitonen und ich haben in diesem ersten Semester auch ein bisschen studiert. Wenn wir eine Mitfahrgelegenheit hatten, fuhren wir spontan übers Wochenende nach Amsterdam oder Paris und hatten gleichzeitig einen ganz normalen Alltag.
Wir mussten essen und schlafen und hatten manchmal auch Liebeskummer. Nie werde ich vergessen, wie ein Professor auf der Kanzel sagte: „Was soll ich noch lehren, es gibt dieses Land nicht mehr!“ – und die Bühne verließ. Das sind Erfahrungen, die mich für immer geprägt haben.
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