Mauerfall

Nur für DDR-Bürger

Daniel Barenboim
Daniel Barenboim © dpa / picture alliance / Mohamed Omar
Von Ronny Blaschke |
Drei Tage nach dem Mauerfall gaben die Berliner Philharmoniker ein kostenloses Konzert für DDR-Bürger. Daniel Barenboim spielte das erste Klavierkonzert von Beethoven, anschließend dirigierte er das Orchester. Welche Bedeutung hat dieses Ereignis für die Zeitzeugen heute?
Der Geiger Bernhard Forck war in den 80er-Jahren ein angesehenes Mitglied des Berliner Sinfonie-Orchesters, einem der wichtigsten Klangkörper der DDR. Fast jeden Morgen hörte er die Sendung "Klassik zum Frühstück" im Kulturprogramm des SFB, des Senders Freies Berlin. Bernhard Forck wusste, wer in der Philharmonie in West-Berlin auftrat. Doch er war mit dem Gedanken aufgewachsen, nie selbst dabei sein zu dürfen:
"Ich erinnere mich, dass unsere Hochschule in der jetzigen Wilhelmstraße, damals hieß sie Otto-Grotewohl-Straße, so ein Hinterhausgebäude war. Und da guckte man direkt Richtung Philharmonie. Die Streicher-Räume waren in der vierten Etage. Ich weiß, dass wir da im Flur standen und darüber guckten: Da ist die Philharmonie. Und man hat es extrem mitgekriegt und hat vor allem extrem gespürt, wie weit diese Distanz ist. Und als Student hatte ich ja überhaupt noch nicht die Gewissheit, dass es mir gelingen wird, irgendwann mal diese Mauern zu überwinden und in den Westen fahren zu können."
Am Tag nach dem Mauerfall war Bernhard Forck erschöpft und glücklich. Im Radio hörte er die Nachricht, dass die Philharmoniker ein Konzert planen. Unter keinen Umständen wollte er das verpassen. Zeitgleich setzte Helge Grünewald alle Hebel in Bewegung. Dem damaligen Pressesprecher der Philharmoniker blieben zwei Tage Zeit:
"Und dann begann natürlich eine Wahnsinns-Organisationsmaschinerie. Das ist ja nicht so einfach, ein Konzert auch physisch aus dem Boden zu stampfen. Wir mussten gucken: Ist der Saal frei? Das war ja an einem Sonntag um 11 Uhr vormittags. Wir konnten auch in aller Schnelle Eintrittskarten drucken. Wir haben dann auf ein richtiges Programmheft verzichtet, wir hatten so ein Programmblatt. Dann war auch schnell der Rundfunk interessiert, das aufzuzeichnen. Und auch das Fernsehen vom damaligen SFB, so schnell kriegen die auch sonst keine Kameras. Das war schon ein leichter Husarenritt, das alles zusammenzubringen."
Aus der ganzen DDR machten sich Menschen auf den Weg zur Philharmonie. Einige von ihnen schliefen in der Nacht vor dem Konzert in ihren Autos. In Glienicke, nördlich von Berlin gelegen, brach Waltraut Tank am frühen Morgen des 12. Novembers auf. Die Musiklehrerin hatte keine Orientierung, eine direkte Busverbindung in den Westen gab es nicht. Waltraut Tank wusste nicht weiter, hielt ein Auto an, und wurde von einem freundlichen West-Berliner begrüßt:
Dieser Beifall ist mir heute noch in den Ohren
"Ja, dann hat der mich mitgenommen, hingefahren vor die Tür. Und dann wurde da geschlossen, ach du lieber Gott. Ja, wir sind schon überbelegt. Und dann ließ der immer noch hin und wieder mal rein. Nun habe ich wahrscheinlich so ein Gesicht gemacht, dass er sagte, ich habe das noch in den Ohren: Und hinter dieser Dame ist Schluss - und die Dame war ich. Dann kam ich rein, da war alles besetzt. Habe ich mich auf eine Treppe gesetzt. Dann ging es los, nicht ganz pünktlich. Erst kamen die Philharmoniker. Ich sage Ihnen, dieser Beifall ist mir heute noch in den Ohren."
Waltraut Tank, inzwischen 89 Jahre alt, saß damals auf der Treppe, Andreas Wittmann saß auf der Bühne. Wittmann ist seit 1986 Oboist der Berliner Philharmoniker. Vor dem Mauerfall war er dreimal in Ost-Berlin gewesen, aus Interesse, jeweils für einen Tag. Er kaufte Noten und Schallplatten, von Kurt Sanderling oder Kurt Masur. Er interessierte sich für das Musikleben der DDR, das in seiner Ausbildung kaum eine Rolle gespielt hatte, aber Kontakt zu Ost-Berliner Orchestermusikern hatte er nicht. Andreas Wittmann genoss den 12. November 1989, vor dem Konzert ging er um die Philharmonie herum und beobachtete die Menschen:
"Als ich die Leute gesehen habe auf dem Parkplatz, das war so unglaublich. Das war wie eine Fata Morgana. Man konnte das ablesen, wie bizarr die Situation für diese Leute gewesen sein muss. Und dann war dieses Konzert. Und ich habe dann auch immer ganz genau die Leute in Block A beobachtet. Da kamen nicht nur mir, sondern vielen meiner Kollegen die Tränen. Man kann das nicht beschreiben. Es war sicher eines der bewegendsten Dinge, die ich in meinem Orchesterleben erfahren durfte."
Andreas Wittmann sah in der ersten Publikumsreihe einen jungen, groß gewachsenen Mann mit Locken: Bernhard Forck. Der Geiger hatte sich nicht träumen lassen, welche Möglichkeiten ihm der Mauerfall eröffnen würde: Konzerte und Unterricht in den USA, Japan oder Australien. Anfang 1990 trat er selbst in der Philharmonie auf, mit dem Freiburger Barockorchester. Bald auch mit der Akademie für Alte Musik. Längst ist Forck Mitglied der Berliner Barock Solisten, einer Kammermusikformation der Philharmoniker. Er kann nicht mehr zählen, wie oft er in der Philharmonie aufgetreten ist. Eines weiß er genau: Der Saal wird für ihn nie selbstverständlich sein.
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