Ostdeutsche Identität

Zwischen Zuschreibung und stolzer Selbstbehauptung

Eine junge Besucherin des Kinderwagenmuseums Zeitz in Sachsen-Anhalt fotografiert Exponate, unter anderem die bunten Kinderwagen des DDR-Herstellers Zekiwa.
Wer seit 1989 in Ostdeutschland aufgewachsen ist, könnte noch in einem Kinderwagen des VEB Zekiwa, die ein Museum in Zeitz präsentiert, gelegen haben. © picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt
Von Clara Hoheisel |
Die Nachwende-Generation in Ostdeutschland kennt die DDR nur aus Erzählungen ihrer Eltern. Trotzdem formt diese Vergangenheit ihre Identität entscheidend mit. Das Ostdeutsche wird ganz bewusst als Abgrenzung zu Westdeutschen hervorgehoben.
Als die Mauer am 9. November 1989 fiel, herrschte große Euphorie über ein vereintes Deutschland und die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft. 35 Jahre später ist eine Generation in Ostdeutschland herangewachsen, für welche die DDR Geschichte ist. Dennoch prägen die Umbrüche, Traditionen und Alltagsgewohnheiten jener Zeit diese Generation.

Wer gehört zur Nachwende-Generation?

Zur Nachwende-Generation zählen jene, die ab 1989 in Ostdeutschland geboren und in der Nachwendezeit sozialisiert wurden. Eine klare Altersuntergrenze ist wissenschaftlich nicht festgelegt. Ihr Blick auf die DDR ist geprägt durch Geschichten – und durch eine Kindheit und Jugend im Schatten des Umbruchs.

Wie prägt die DDR das Selbstverständnis der Nachwende-Generation?

Laut dem Soziologen Daniel Kubiak dominierten lange „alte westdeutsche Männer“ die öffentliche Deutung ostdeutscher Befindlichkeiten – in Talkshows, Redaktionen und Vorständen. Doch inzwischen prägen auch junge Ostdeutsche die Perspektive auf ihre Herkunft, etwa durch Initiativen wie #wirsindderosten oder (K)Einheit.
Diese Nachwendegeneration ist in einem vereinten Deutschland aufgewachsen. Trotzdem wird ihre Lebenswelt von der DDR-Vergangenheit beeinflusst.
Laut Daniel Kubiak muss Ostdeutschland als diskursiver Raum verstanden werden, in dem gesellschaftliche Neuaushandlungen stattfinden. Junge Ost- und Westdeutsche interagieren hier unter anderem mit Eltern, Medien und politischen Rahmenbedingungen, die „Ostdeutschsein“ sozial definieren und verorten.

Welche Unterschiede bestehen noch zwischen Ost- und Westdeutschland?

Empirische Daten belegen, dass Ostdeutschland sozialstrukturell hinterherhinkt – bei Vermögen, Spitzenpositionen, Einkommen, Infrastruktur und dem Sitz von DAX-Unternehmen. Vollzeitbeschäftigte im Osten verdienen durchschnittlich über 800 Euro brutto weniger im Monat als ihre Kolleg:innen im Westen; das vererbte Vermögen im Westen liegt etwa doppelt so hoch.
Auch große Unternehmen siedeln sich vorwiegend im Westen an, was die wirtschaftliche Ungleichheit und die Infrastrukturunterschiede weiter verstärkt. Transformationsforscher:innen schätzen, dass gesellschaftliche Umbrüche etwa 30 bis 50 Jahre dauern. Der Soziologe Steffen Mau spricht von „ostdeutschen Frakturen“ – einer Transformation, die noch lange nicht abgeschlossen ist.

Was ist eine ostdeutsche Identität?

Ostdeutsche Identität umfasst eine soziale und kulturelle Verbundenheit mit den neuen Bundesländern und den prägenden Erfahrungen der Transformation nach 1989. Der Soziologe Daniel Kubiak hat erforscht, dass die Abgrenzung zwischen Ost und West durch das Konzept des Otherings verstärkt wird: Der Westen werde als gesellschaftliche Norm betrachtet – sichtbar in historischen Erzählungen und der Verteilung von Ämtern, die oft von westdeutschen weißen Männern dominiert werden.
Ostdeutsche Beteiligung am Diskurs bleibe gering, und das Gefühl der Ausgrenzung prägt ein Selbstverständnis als „anders“. Diese Identität entsteht oft aus gemeinsamen Erfahrungen von Benachteiligung. Der Soziologe Steffen Mau fasst zusammen: „Die Ostdeutschen sind durch Gemeinsamkeiten verbunden, die sie mit anderen – den Westdeutschen zum Beispiel – nicht teilen.“ Das Gefühl des „Fremdseins“ im Gesamtdeutschland wirkt demzufolge identitätsstiftend.
Nach einer Studie der Otto-Brenner-Stiftung identifizieren sich 22 Prozent der ostdeutschen Nachwendekinder eher als ostdeutsch, während nur acht Prozent der Westdeutschen eine vergleichbare Identität für sich beanspruchen.
Ein „Westdeutschsein“ als Identität existiert kaum, außer als geografische Verortung. Denn: Westdeutsche Identität gilt als Norm und wird meist mit „deutsch“ gleichgesetzt.
Diese Norm prägt auch die Sprache der Berichterstattung, wenn etwa von „den drei ostdeutschen Landtagswahlen“ die Rede ist, während im Westen niemand von „westdeutschen Landtagswahlen“ spricht.

Es gibt kein typisch ostdeutsches Leben

Gleichzeitig lässt sich kaum von „der“ ostdeutschen Identität sprechen, betont die Direktorin des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig, Uta Bretschneider: Menschen seien nicht nur Ostdeutsche, sondern beispielsweise auch Fußballfans, Handwerker oder Lehrerinnen, ihr Identität ist geprägt durch die Stadt-Land-Herkunft, den Bildungsweg oder soziale Bedingungen.
Ein „typisch ostdeutsches“ Leben gibt es ebenso wenig wie eine klare Trennung zwischen Ost und West, meint der Historiker Markus Böick. Er sieht die Kategorien „Ossi“ und „Wessi“ daher kritisch. Biografien verlaufen quer zu solchen Konstruktionen, etwa bei Menschen, die zwar im Westen geboren, aber im Osten sozialisiert wurden, oder bei Ostdeutschen, die nie das Landleben kennengelernt haben.
Ostdeutsche Identität ist ein fließendes Konstrukt, geformt durch Selbst- und Fremdwahrnehmung und die Rollen, die Menschen in verschiedenen Kontexten einnehmen.

Warum spielt ostdeutsche Identität für die Nachwende-Generation eine Rolle?

Viele Ostdeutsche fühlen sich strukturell benachteiligt und unterrepräsentiert. Dieses Empfinden wird von der Elterngeneration und dem sozialen Umfeld an die Nachwendegeneration weitergegeben. Junge Ostdeutsche wachsen in einem Umfeld auf, das durch die Erfahrungen älterer Generationen geprägt ist. Ihre Geschichten und Werte formen das Selbstverständnis der Jüngeren.

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Die ostdeutsche Identität schafft für die Nachwendegeneration eine Verbindung zur familiären und historischen Herkunft und eine Abgrenzung von der westdeutschen Dominanzkultur. Anders als die Elterngeneration, die stark von der DDR und der Wende geprägt ist, kann die Nachwendegeneration auf soziale Ungleichheiten und Repräsentationslücken hinweisen, ohne sich auf ein Opfer-Narrativ zu stützen.
Heute wirkt weniger die historische Teilung an sich fort, sondern das Zusammenspiel aus DDR-Vergangenheit und Nachwende-Erfahrungen, welche die Identität junger Ostdeutscher prägt. Sie verarbeiten und interpretieren diese Erfahrungen neu und entwickeln so ihre eigene Perspektive auf ihr „Ostdeutschsein.“

Ist die Betonung des Ostdeutschen hinderlich auf dem Weg zur gemeinsamen Identität?

Lange hoffte man, die Ost-West-Gegensätze würden sich allmählich von selbst auflösen. Doch der Westen bleibt für den Osten ein permanenter Bezugspunkt, an der sich das eigene Selbstverständnis schärft – jedoch selten auf Augenhöhe.
Während im Westen die Angleichung weitgehend als abgeschlossen gilt, sehen das viele Ostdeutsche anders: Eine quantitative Studie der Otto-Brenner-Stiftung zur Nachwendegeneration zeigt: Während 57 Prozent der westdeutschen Jugendlichen meinen, Ost und West seien heute gleich, sehen das im Osten nur 33 Prozent so.
Das Betonen der ostdeutschen Identität wirkt oft wie eine Trennlinie, ist jedoch auch ein Akt der Selbstbehauptung. Für viele Ostdeutsche ist die eigene Herkunft ein Mittel, um auf wirtschaftliche Benachteiligungen und die strukturelle Unterrepräsentation aufmerksam zu machen. Ein inklusives Verständnis von Deutschland müsste auch die ostdeutsche Perspektive aktiv einbeziehen – nicht als „andere“ Erfahrung, sondern als integralen Bestandteil der gemeinsamen Identität.
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