Kritik an "Gedenkkultur durch Redeschablonen"
Rainer Süßmuth vom Kunstkollektiv "Zentrum für politische Schönheit" hat den Raub der sieben weißen Gedenkkreuze für die Mauertoten am Spreeufer in Berlin verteidigt. Der Raub habe "größere moralische Tiefenschärfe" als das Gedenken an den 9. November.
Man wolle gewiss niemanden in seinen persönlichen Gefühlen verletzten, sagte Süßmuth im Deutschlandradio Kultur. "Es ist nur so, dass Gedenken erweitert werden muss durch einen ganz wichtigen Begriff - und zwar ist das die Gegenwart." Der eigentliche Skandal sei, dass das gerechtfertigte Gedenken an die Opfer der deutsch-deutschen Teilung mit dem gleichzeitigen Nicht-Gedenken an die 30.000 Toten an den Außengrenzen der EU einhergehe. An viele vergangene und zukünftige Fluchtopfer werde "überhaupt gar kein Gedanke" verschwendet: "Darüber muss auch gesprochen werden."
Fehlen der Mauerkreuze einige Tage nicht aufgefallen
Dass das Künstlerkollektiv die Mauerkreuze entwendet habe und an die EU-Außengrenze bringe, ist für Süßmuth gerechtfertigt: "Indem die weißen Kreuze an die Außenmauern geflüchtet sind, zu den zukünftigen Mauertoten, zu den Menschen, die in Zukunft zu Tode geprügelt werden, vergewaltigt werden, auf der Flucht ums Leben kommen - das finden wir hat eine wesentlich größere historische und moralische Tiefenschärfe als das momentan stattfindende Mauergedenken, das über eine Million Euro kostet und weiße Ballons in die Luft schickt. Das finden wir doch irgendwie etwas unangebracht."
Auch sage es viel über die Gedächtniskultur dieses Landes aus, dass das Fehlen der Mauerkreuze einige Tage lang gar nicht aufgefallen sei - "und auf einmal gibt es jetzt Menschen, die sich aufregen und uns vorwerfen, dass wir dieses Gedenken beschädigen". Man habe allen Respekt vor den Mauertoten und den Kreuzen und halte diese auch in allen Ehren. "Wir weisen nur mit den Mitteln der Kunst auf Missstände hin und auf eine Gedenkkultur, die durch Redeschablonen und durch Installationen sich um die Geschichte dreht und nicht die Augen offen hat, was gegenwärtig passiert."