Maulkorb für Hildebrandt

Von Hartmut Goege |
Scharfzüngig und unbestechlich nahm Dieter Hildebrandt im "Scheibenwischer" Politik und Politiker aufs Korn. 1986 wurde es dem Bayerischen Rundfunk zu viel, er blendete sich kurzerhand aus der Fernsehsendung aus. Ein beispielloser Proteststurm brach los.
"In meiner bayerischen Heimat sieht man uns jetzt zum Beispiel nicht. Die haben sich heute ausgeschaltet. Beziehungsweise der Herr Programmdirektor Oeller, ein langjähriger Freund von mir. Der ist wie eine schwarze Anstaltsgouvernante, die den Landeskindern sofort erschrocken die Augen zuhält, wenn sie ein paar nackte Hühner sehen."

Dieter Hildebrandt live am Abend des 22. Mai 1986 im "Scheibenwischer". Ein paar Stunden zuvor noch hatte Helmut Oeller, der Fernsehdirektor des Bayerischen Rundfunks, die Kollegen der anderen ARD-Sender vergeblich dazu aufgefordert, die Satiresendung ebenfalls abzusetzen. Er kritisierte unter anderem die nach seinen Worten "makabre und degoutante" Art, die knapp einen Monat alte Tschernobyl-Katastrophe zu thematisieren.

"Vor Jahrzehnten hat man schon gesagt: Die Russen kommen. Jetzt sind sie da. Allerdings anders gemessen, also nicht in Panzern und Menschen, sondern nach Becquerel, aber sie sind da, und es sieht ganz danach aus, als ob wir darauf nicht vorbereitet waren."

Mehrfach schon hatte Oeller versucht, Hildebrandt aus dem Programm zu verbannen. Als die Deutsche Presseagentur den bayerischen Ausstieg kurz vor der Sendung meldet, wird eine fast beispiellose Lawine in der deutschen TV-Geschichte losgetreten. Tausende von verhinderten bayerischen "Scheibenwischer"-Fans versuchen, sich telefonisch zu beschweren. Andere fahren sogar beim Münchner Sender vor und bewerfen die Pförtnerloge mit Eiern. Kabarett-Kollegen solidarisieren sich mit Hildebrandt und kündigen ihre Mitarbeit beim Bayerischen Rundfunk auf. Und das Münchner Boulevardblatt "tz" fragt seine Leser:

"Was ist der Unterschied zwischen der DDR und dem Freistaat Bayern? - In der DDR konnte man am Donnerstagabend Dieter Hildebrandts 'Scheibenwischer' sehen!"

An den folgenden Tagen werden Videokopien in den Freistaat geschmuggelt und "Scheibenwischer"-TV- Abende in Kneipen organisiert. Die Münchner "Abendzeitung" druckt ganze Text-Passagen wie die vom strahlenverseuchten Großvater. Lisa Fitz persifliert darin behördliche Empfehlungen zum Reaktorunfall, bei Regen wegen radioaktiver Niederschläge die Häuser nicht zu verlassen.

"Wir befürchten jetzt eben, dass der Großvater schon ordentlich was abgekriegt hat von der Radioaktivität. Und wie gesagt, gestern ist er 91 geworden, da muss man ja auch jeden Tag mit dem Schlimmsten rechnen. Und deswegen, ich meine, den kann man ja nicht so einfach begraben, am Ende verstrahlt der noch den ganzen Friedhof. Und jetzt wollt ich halt wissen: Müssen wir unseren Großvater jetzt endlagern?"

Ob für Satire nicht andere Gesetze gelten, will tags darauf der Rundfunk-Moderator Kurt Gerhard von BR-Direktor Oeller wissen:

"Das sind Passagen, von denen ich der Meinung bin sie sind schlicht kein Stilmittel des Kabaretts, sondern es sind Aggressionen, die schlechten Stil und schlechten Geschmack zeigen."

"Die Tatsache, dass Sie als Einziger ausgestiegen sind, das irritiert sie nicht?"

"Das irritiert mich nicht, denn ich bin überzeugt, dass meine Position stärker ist als das Stimmenergebnis zeigt."

Dem widerspricht zumindest eine Blitzumfrage der Wickert-Institute einen Tag später, wonach sich 71 Prozent der Bayern vom eigenen Sender bevormundet fühlen. Intendant Reinhold Vöth sieht die Absetzung dagegen klar durch das Bayerische Rundfunkgesetz

"Das Gesetz sieht nicht vor den so genannten mündigen Fernsehzuschauer, der nun selbst entscheidet, was er sehen will und was nicht, sein Programm gewissermaßen selber macht. Wenn man das wollte, müsste das Gesetz geändert werden, dann könnte alles gesendet werden."

Offensichtlich eine Horrorvorstellung, wenn es um politisches Kabarett geht. Als Hildebrandt beim Sender Freies Berlin 1980 die Satiresendung aus der Taufe hebt, schimpft ihn der bayerische Ministerpräsident und Kanzlerkandidat Franz-Josef Strauß einen "politischen Giftmischer". Derart geadelt entwickelt sich der Kabarettist für viele zu einer festen moralischen TV-Instanz, scharfzüngig und unbestechlich. Das Ausschalten der Bayern 1986 ist zwar ein Höhepunkt in der Einflussnahme durch die Politik, aber dank der vehementen Proteste bleibt sein Kabarettprogramm auch in Bayern weiterhin auf Sendung. Als sich Hildebrandt 2003 nach 23 Jahren von der "Scheibenwischer"-Bühne verabschiedet, übernehmen seine Mitstreiter Bruno Jonas, Mathias Richling und Georg Schramm. Nach Schramms Ausstieg in diesem Monat aber ist es ungewiss, ob sich der "Scheibenwischer" als die letzte Bastion des klassischen politischen Fernsehkabaretts halten wird.