Desintegriert euch – und dichtet politisch!
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In seinem neuen Gedichtband lotet Max Czollek den Grenzbereich zwischen Lyrik und politischem Kommentar aus – und schlägt einen neuen Zugang zur deutschen Erinnerungskultur vor.
Mit seinem Essay "Desintegriert euch!" sorgte der Lyriker und Theaterautor Max Czollek für einigen Wirbel. Czollek kritisierte darin die deutsche Erinnerungskultur, die Juden als stille Opfer porträtiere und sich über eine Identifikation von der historischen Schuld zu befreien suche. In seinem neuen Gedichtband "Grenzwerte" nähert sich Czollek der Erinnerungskultur nun auf lyrische Weise an.
Widerspruch zwischen Grenzen und Werten
Schon der Titel verweist auf die Widersprüche und Mehrdeutigkeiten, die Czollek in seinen Gedichten herausarbeitet. Denn in der Gegenwart stünden sich Grenzen und Werte oft gegenüber – was beispielsweise an der europäischen Grenze sichtbar werde, so Czollek.
Gleichzeitig schwingt in Czolleks Gedichten oft ein reflexives Moment mit. Wie und wann Lyrik politisch sein kann, sei alles andere als eindeutig: "Dichtung reicht in gesellschaftliche und politische Felder hinein, sie würfelt Dinge durcheinander – und gerät möglicherweise auch an die Grenzen ihrer eigenen Form." Auch deshalb steht der Dichter dem Etikett "politische Lyrik" eher skeptisch gegenüber. Frei nach dem Filmregisseur Jean-Luc Godard möchte Czollek lieber politisch dichten, anstatt politische Gedichte zu schreiben.
Appell an andere Dichter
Wie das funktionieren kann, demonstriert Czollek in dem Kapitel "Inglourious Poets" (dt. "Unrühmliche Dichter"). Ein Titel, der auf Quentin Tarantinos Film "Inglourious Basterds" anspielt, in dem jüdische Soldaten sich hinter den feindlichen Linien an den Nazis rächen. Der Film ist eine kontrafaktische Erzählung, eben darin erkennt Czollek das Potenzial einer lyrischen Erinnerungskultur.
So versuche er in seiner Lyrik, "nicht nur nach realen Geschichten zu suchen, die eine andere Erzählung erlauben, als dass Juden und Jüdinnen Opfer und Überlebende sind." Vielmehr sollen auch fiktive Ressourcen aktiviert werden, "die es einem ermöglichen, anders zuzugreifen."
Das Werk lässt sich dabei durchaus auch als Appel an andere Lyriker verstehen. "Lasst uns anders nachdenken über unser Schreiben und die Verortung, die wir vornehmen, als im Rahmen der Gedenkpolitik."
Lyrisches Porträt der Kosher Nostra
So wendet sich Czollek im Zyklus "Kosher Nostra" der jüdischen Mafia der 20er- und 30er-Jahre in New York zu. Die Mafiosi waren nicht nur Gangster, sie entsandten auch Schlägertrupps, um zu verhindern, dass sich Faschisten in der Stadt ausbreiteten.
Czollek nähert sich diesen Gangstern in lyrischen Porträts. Darin tauscht er sich mit den Toten aus, indem er deren Lebensgeschichte durch seinen eigenen Filter laufen lässt. "Gangstergeschichten sind immer so von Mythen überformt, dass eine lyrisches Porträt vielleicht sogar eine gerechtere Heransgehenweise ist", so Czollek.
(rod)