Max Czollek über „Gegenwartsbewältigung“

Eine Gesellschaft, die alle schützt

43:39 Minuten
Illustration einer Hand, die einen roten Kreis um ein Gesellschaftsmitglied herum zeichnet.
Wo ziehen wir die Linien zwischen dem Eigenen und dem Fremden? Der Publizist Max Czollek wirbt für eine Gesellschaft, in der Vielfalt selbstverständlich ist. © imago images / Ikon Images
Moderation: Catherine Newmark |
Audio herunterladen
Wer ist deutsch, wer nicht? Gerade in Krisenzeiten spalte diese Frage unsere Gesellschaft, sagt der Publizist und Lyriker Max Czollek. Deutschland halte an einem Verständnis von Nation und Kultur fest, das noch immer völkisch geprägt sei.
Der Anschlag auf die Synagoge in Halle und das Attentat auf zwei Shishabars in Hanau haben viele Menschen in Deutschland erschüttert und alarmiert. Doch aus der Sicht des Berliner Publizisten Max Czollek kommt in den Reaktionen von Politik und Öffentlichkeit auf diese Vorfälle rechten Terrors eine "beschränkte Solidarität" zum Ausdruck.

Wer kann auf die Gemeinschaft zählen?

Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft mit Krisen umgeht, verrate, wie sie sich selbst definiert, so Czollek. Wer gehört dazu, wer nicht? Welche Kriterien gelten dafür, und worauf gründet deren Autorität? Wer kann dementsprechend auf Unterstützung und Schutz durch die Gemeinschaft zählen?
Im Licht der Coronapandemie zeige sich das in besonderer Weise. "Ich glaube, dass sich in einer Extremsituation wie dieser Pandemie Widersprüche verschärfen und deutlicher sichtbar werden", so Czollek. Ein Blick in die jüngere Geschichte führe vor Augen, dass Politik und Öffentlichkeit auf Gesundheitskrisen durchaus unterschiedlich reagierten, "je nachdem, wen es trifft".

Das Virus der Anderen

So sei die Aids-Krise der 1980er Jahre nach Bekanntwerden des HIV-Virus vielfach so dargestellt worden, als fände sie außerhalb der Gesellschaft statt. Das Magazin "Der Spiegel" habe damals von der "Schwulenseuche Aids" geschrieben.
Dass es sich mit dem Coronavirus anders verhalte, habe auch damit zu tun, dass das Verständnis von "uns" und "denen" in diesem Fall anders gelagert sei, meint Czollek: "Polemisch gesagt: Wenn Oma und Opa bedroht sind, dann ist es plötzlich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe." Dabei geht es Czollek darum, auf eine gravierende Schieflage in der Einschätzung und Behandlung gegenwärtiger Krisen hinzuweisen.
Max Czollek lehnt in schwarzer Lederjacke an einer Wand mit Graffiti.
Wer "Integration" fordert, erklärt Vielfalt zum größten Problem, sagt Max Czollek. Das werde unserer Gesellschaft nicht gerecht.© Gunter Glücklich
"Die Behandlung der Coronakrise in ihrer Ernsthaftigkeit" stehe "in einem starken Kontrast zu der Art und Weise, wie mit rechtem Terrorismus in Deutschland umgegangen wird", so Czollek, nicht nur mit Hanau und Halle als besonders extremen Fällen. Hinzu kämen die "nahezu wöchentlich aufgedeckten rechten Netzwerke in Polizei, Bundeswehr, Nachrichtendienst, Freiwilliger Feuerwehr und so weiter."

Kritik am Konzept der "Leitkultur"

Eine Ursache dafür sieht Czollek in einem spezifisch deutschen Verständnis von Nation und Kultur, das der pluralen Gesellschaft von heute nicht gerecht werde. Bereits in seinem 2018 erschienenen Essay "Desintegriert euch!" hat Czollek diese Kritik anhand von viel diskutierten Begriffen wie "Integration" und "Leitkultur" ausgeführt.
"Wenn man 'Integration' sagt oder 'Leitkultur' sagt", so der studierte Politologe, "dann sagt man: Das größte Problem einer Gesellschaft ist ihre Vielfalt. Die müssen wir bewältigen, die müssen wir managen. Deswegen müssen sich die Leute an der Leitkultur orientieren, deswegen müssen sich die Leute, die hier sind, integrieren, weil eine Gesellschaft nur dann funktioniert, wenn sie relativ harmonisch und relativ ähnlich ist."
Diese Auffassung hält Czollek jedoch für "nicht mehr angemessen, um die radikale Vielfalt der Gesellschaft abzubilden", mit der wir es heute zu tun haben. Eine Gesellschaft, die sich an einem solchen, auf Homogenität abzielenden Leitbild orientiere, könne letztlich auch keinen Schutz bieten "gegen das Wiederaufkommen von rechten und völkischen Politiken", so Czollek.

Wer ist "wir"?

In seinem neuen Essay mit dem Titel "Gegenwartsbewältigung" zeichnet er nach, auf welcher Denktradition "die Konfiguration eines deutschen Nationalismus" fußt, "also der Vorstellung, wer wir sind, wo die Grenzen dieses Wirs liegen, und was Menschen tun müssen, um Teil dieses Wirs zu werden."
Die Vorgeschichte dieses deutschen Selbstbilds reiche 200 bis 250 Jahre zurück und mache deutlich, dass die Idee einer homogenen Volksgemeinschaft "mitnichten nur ein Phänomen des Nationalsozialismus ist, sondern eigentlich die Art und Weise, wie sich der deutsche Nationalismus konfiguriert und auch abgrenzt von Frankreich oder England im 18. Jahrhundert."
Nach dem Ende der NS-Diktatur habe der Versuch, ein neues positives Selbstverständnis aufzubauen, zu der Vorstellung geführt, "Deutschland nach 1945 müsste sich gleichermaßen gegen links wie rechts abgrenzen, sodass so etwas wie die gute bürgerliche Mitte entsteht", erklärt Czollek.

Ein Hufeisen verstellt den Blick

Diese sogenannte "Hufeisentheorie" sei allerdings "nicht mehr leistungsfähig" und könne die Herausforderungen der Gegenwart nicht bewältigen. Das habe erst vor wenigen Monaten die Minsterpräsidentenwahl in Thüringen gezeigt, bei der eine Politik im Namen der bürgerlichen Mitte in die Kooperation von CDU und FDP mit der AfD gemündet sei.
Auch im Streit um den in Hamburg geplanten Auftritt der Kabarettistin Lisa Eckhart, die wegen angeblicher Verbreitung antisemitischer und rassistischer Klischees in der Kritik steht, hätten ganz offensichtlich vor jeder genauen Betrachtung des Einzelfalls Einschätzungen im Sinne der Hufeisentheorie den Verlauf der Debatte bestimmt, meint Czollek.
Zunächst hieß es, das Literaturfestival Harbour Front habe Eckhart ausgeladen, nachdem es Drohungen aus einer gewaltbereiten linken Szene erhalten habe. Der Sturm der Empörung über das Einknicken der Veranstalter und eine angebliche linke "Cancel Culture", die unliebsame Stimmen mundtot machen wolle, war enorm. Kurz darauf erklärte das Festival: Konkrete Drohungen habe es nie gegeben. Die Vorstellung von einem gewaltbereiten linken Mob, der Eckharts Auftritt habe verhindern wollen, entsprang wohl eher der Annahme, einer Bedrohung von rechts müsse stets eine ebenso große Gefahr von links entsprechen, so Czollek.

Ein neuer Antifaschismus

Um den in seinen Augen nach wie vor völkisch grundierten Vorstellungen von einer Mehrheitsgesellschaft, die eine Leitkultur vorgibt und Integration einfordert, ein anderes Modell entgegenzusetzen, fordert Max Czollek einen "postmigrantischen Antifaschismus", den er als "Neufassung der antifaschistischen Grundhaltung" versteht, "die diese Bundesrepublik letztendlich begründet hat."
Czolleks Vorstellung zielt auf ein Selbstverständnis ab, das Vielfalt einschließt, auf eine Gesellschaft, die "alle schützt und nicht nur manche oder, um mit Adorno zu sprechen, eine Gesellschaft, in der man 'ohne Angst verschieden sein kann'." Um ihr näher zu kommen, sei es wichtig, die Identitätspolitik "als eine sehr erfolgreiche Konzeption der letzten 30 Jahre" ernst zu nehmen und gleichzeitig "über sie hinaus zu denken."
Es komme darauf an, sagt Czollek, Bündnisse einzugehen, "in denen sich nicht nur Diskriminierte zusammenfinden, sondern alle möglichen Menschen, die ein Interesse daran haben, dass die Gesellschaft eine andere wird."
(fka)

Max Czollek: Gegenwartsbewältigung
Hanser, München 2020
208 Seiten, 20 Euro

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

Philosophische Orte: Rosa Luxemburgs Suche nach Heimat
Rosa Luxemburg steht wie keine andere für Revolution. Zeitlebens hat sie sich gegen den Reformismus der SPD stark gemacht – intellektuell wie politisch. Doch hinter dem kämpferischen Geist verbarg sich auch die Sehnsucht nach einem Zuhause, wie Jule Hoffmann in Berlin-Friedenau erfuhr.

Philosophie und Klimapolitik: Plädoyer für einen neuen Konservativismus
Der Klimawandel ist in vollem Gange, er vollzieht sich sogar schneller als gedacht. Um ihm Einhalt zu gebieten, brauchen wir einen neuen Konservatismus, meint Simone Miller: inspiriert von Hans Jonas' "Prinzip Verantwortung".

Mehr zum Thema