"Eine Ikone der Sozialwissenschaft"
Das Unvollständige an Max Webers Werk sei der Schlüssel zu dessen dauerhafter Bedeutung, sagt Jürgen Kaube. So hätten sich Generationen von Soziologen an ihm abarbeiten und ihre eigenen Weber-Deutungen entwickeln können.
Stephan Karkowsky: Kaum ein intellektueller Vordenker des 19. Jahrhunderts wird so häufig in akademischen Arbeiten zitiert wie der Soziologe Max Weber. Einen Vortrag einzuleiten mit einem Weber-Zitat, das macht sich immer gut. Sie können damit mal eben schnell den Protestantismus erklären. Schlaues über das Wesen der Bürokratie erzählen. Oder mit knackigen Definitionen von Macht und Herrschaft glänzen. Weber wird scheinbar von allen respektiert! Max Webers Werk scheint sich dabei weitgehend emanzipiert zu haben von seinem Leben. Über das wird nämlich vergleichsweise wenig gesprochen. Die neue Max-Weber-Biografie von Jürgen Kaube könnte das ändern. Herr Kaube, guten Tag!
Jürgen Kaube: Guten Tag!
Karkowsky: Nun haben sich wenige bisher versucht an einer Gesamtbewertung von Leben und Werk Webers. Vermutlich auch, weil sich kaum einer traut, sein Werk auf die eine griffige Formel zu bringen. Ist Ihnen das denn gelungen?
Kaube: Na, ich glaube nicht, dass ein Leben unter einer Formel geführt werden kann. Das gilt auch für so ein immens komplexes Werk, das – Sie haben es schon angedeutet – ganz viele Facetten und Themenstellungen hat, Sachgebiete. Es gibt Musik, Soziologie, politische Soziologie, Religionen haben ihn interessiert, das Recht. Aber man kann doch sagen, worum es diesem Mann ging. Nämlich in einer Gesellschaft im 19. Jahrhundert und dann aber eben auch im beginnenden 20. – denn er ist ja 1920 gestorben –, in einer Gesellschaft, in der das Gute wie das Böse wächst, in der der Wohlstand wie das Elend wächst, die Rationalitäten wie der Aberglaube, die Ideologien wie die Nüchternheit und die Wissenschaft der Technik, in einer solchen Gesellschaft ein Art Gesamtbeschreibung dessen, was sich zuträgt, zu verfertigen, die selber nicht ideologischer Natur ist. Was ungeheuer schwer war in dieser Welt, weil es eine Wissenschaft dafür eben noch gar nicht gab.
Karkowsky: Die hat er quasi erfunden. Er gilt als einer der Mitbegründer der Soziologie, vielleicht der maßgeblichste in Deutschland. Was gab es denn da vorher?
Kaube: Na ja, die Soziologie ist dem Titel nach eigentlich eine französische Erfindung, Auguste Comte, frühes 19. Jahrhundert, dort eigentlich als Gesellschaftsplanungswissenschaft verstanden. Dann gab es so verschiedene Ansätze, die unter diesem Titel liefen. Aber eigentlich kommt das Wort erst, in unserem heutigen Sinne, im Kontext von Max Weber. Und man muss seinen Kollegen Georg Simmel auch nennen. Also, um 1900 herum erhält es den Sinn, den es auch heute noch hat. Nämlich eine Wissenschaft, die irgendwie interdisziplinär ist und nicht in den einzelnen Teilgebieten aufgeht.
Karkowsky: Wem die Details neu sind – und das dürften doch einige sein –, der kommt in Ihrem Buch aus dem Staunen über Webers Leben nicht mehr raus! Max Weber lebte nur 56 Jahre, er schuf aber ein enormes Werk und das meiste davon wurde erst nach seinem Tod 1920 veröffentlicht. Wie kommt’s?
"In seinem Leben bringt er nur zwei Bücher zu Ende"
Kaube: Nun, das kommt aus … Das hat zwei Gründe. Der eine Grund ist, Max Weber ist ein sehr, sehr früh gelehrter Mensch. Man kann eigentlich sagen, mit 15 Jahren hat man schon einen Gelehrten vor sich, der irgendwie sich zum Geburtstag Bücher über die Freunde Ciceros wünscht. Er fängt an, zu studieren. Er kommt von der Juristerei in die Rechtsgeschichte, von dort in die Nationalökonomie und wird mit 29 Professor. Kurz danach ein Nervenzusammenbruch erster Klasse, wenn man das so salopp sagen darf. Er ist drei Jahre komplett vom Strom genommen. Er ist in Sanatorien und reist durch Europa, um sich zu erholen, extreme psychische Schwierigkeiten. Er tritt von seiner Professur zurück, kehrt dann wieder und fängt in einer maßlosen Weise an zu schreiben, Tausende von Seiten, und alles Versuche. Alles Versuche, Aufsätze, lange Aufsätze, 100-seitige, 200-seitige Aufsätze, die aber alle so etwas Tastendes haben.
Man weiß zunächst nie genau, worauf läuft es eigentlich hinaus, wofür ist das eigentlich ein Beispiel. Zum Beispiel die Untersuchung über die Ursprünge des Kapitalismus im protestantischen Geist, ein Aufsatz, der nicht zum Buch wird. Er schreibt im Grunde genommen, in seinem Leben bringt er nur zwei Bücher zu Ende, das ist die Promotion und die Habilitation, und ganz an seinem Lebensende – dann stirbt er aber auch gleich – seine religionswissenschaftlichen Aufsätze. Der Rest ist Nachlass und ist dann eigentlich von seiner Frau, die sich darum sehr gekümmert hat, dann zu einem Werk gemacht worden.
Karkowsky: War er denn schon zu Lebzeiten prominent und respektiert?
Kaube: Ja, er war so eine Art geheimes Zentrum der Intellektualität in Deutschland. Er lebte ja in Heidelberg vorwiegend und, wenn man so will, einer Stadt, die eben nicht Preußen war, aber auch nicht München, auch nicht Bohème, sondern irgendetwas dazwischen, und war so eine Art informelle, geheime Eminenz. Es war völlig fraglos seiner Zeitgenossenschaft, dass er die größte sozialwissenschaftliche und historische Intelligenz seiner Zeit ist. Aber er hatte eben keine offizielle Professur und wirkte über Aufsätze, über Gespräche, über Gutachten. Er hatte eine journalistische Ader, er schrieb viel über die politischen Ereignisse seiner Zeit, wollte da auch hineinwirken. Man spürt ständig einen Drang dazu, dass er eigentlich Politik als ein ihm angemessenes Betätigungsfeld ansieht. Aber für Politik war er viel zu, wie soll man sagen, viel zu offen, viel zu konfliktfreudig, viel zu wenig an Taktik und Strategie interessiert, sodass alle Kandidaturen für irgendwelche Ämter scheiterten.
Karkowsky: Sie hören den "FAZ"-Redakteur Jürgen Kaube über seine neue Max-Weber-Biografie, Untertitel: "Ein Leben zwischen den Epochen". Herr Kaube, Weber kam aus einer reichen großstädtischen Familie, das habe ich in Ihrem Buch gelernt, er musste für seinen Lebensunterhalt eigentlich nicht arbeiten. Er beendete sein Berufsleben mit 35 bereits, teilte dieses Privileg des Wohlhabenden ja mit allen Klassikern der deutschen Soziologie außer Ferdinand Tönnies, Sohn eines Großbauern, aber vermögend waren die alle. Weber hatte also eigentlich alle Voraussetzungen für ein erfolgreiches und sinnvolles Leben als Mitglied der bürgerlichen Klassen. Haben Sie den Eindruck, er hat das Beste daraus gemacht?
"Alles, was er tat, war exzessiv"
Kaube: Ja, das ist schwer zu sagen. Das Vermögen, muss man dazu sagen, das kam immer über die Frauen. Also, die Mutter hatte die Familie reich gemacht. Seine Frau wiederum, die seine Großcousine war, das war so ein Textilnetzwerk, ein Imperium, da kamen also die Zinsen sozusagen her, die dann etwas abschmolzen. Deswegen wurde er am Ende seines Lebens dann wieder Professor, dann musste er auch wieder Geld verdienen. Hat er das Beste draus gemacht? Ja, ich meine, angesichts dieses ungeheuren Werkes wird man natürlich diese Frage nicht verneinen wollen, andererseits war es ein exzessives Leben, alles, was er tat, war exzessiv. Darunter litt er auch wiederum. Es war ein Leben, das durch, wie soll man sagen, sexuelle Nöte geprägt war. Es war ein Leben, das ständig in Konflikten ausagiert wurde. Also Duellforderungen, Polemiken, überall, wo er auftritt, gibt es eigentlich Szenen. Gleichzeitig eben jemand, der aus dem Stand heraus zweistündige Vorträge halten kann. Also, man kann sagen, er hat sein Leben und seine Lebensenergie erschöpft und bis zum letzten Zug sozusagen verbraucht. Wenn man das dann als "das Beste draus machen" ansehen will, dann hat er sicherlich das Beste draus gemacht.
Karkowsky: Nun hatte ich eingangs schon erwähnt: Weber wird für seine intellektuelle Leistung gefeiert, verehrt, ganz unabhängig von dem Leben, das er geführt hat. Würden Sie jetzt sagen, nachdem sie so viel darüber wissen: Erklärt Webers Leben sein Werk, und zwar die Inhalte, also nicht den ungeheuren Output, sondern das, was er geschrieben hat?
Kaube: Natürlich nicht im Ganzen. Die Schriften eines Wissenschaftlers werden sich nie durch seine Ehe, durch sein politisches Verhalten oder durch seine kulturellen Präferenzen oder durch eben seine Karriere erklären lassen. Andererseits ist die Themenwahl bei ihm ganz typisch, er sucht eigentlich für das deutsche Bürgertum eine Art Heldenmodell. Er sieht ein Bürgertum, das ökonomisch an der Macht ist, und fragt sich jetzt, wie kann es eigentlich auch kulturell und vor allem auch politisch dominant werden in Deutschland, das vom Adel und vom Hof, Wilhelm II. beherrscht wird? Und danach wählt er seine Themen. Zum Beispiel, indem er einfach versucht, in der Ursprungsgeschichte des Kapitalismus zu zeigen: Damals waren die Kapitalisten Menschen von anderem Typ als die, die er in seiner eigenen Umwelt erlebte. Das sind diese berühmten Puritaner, diese Asketen, diese stahlharten Menschen, wie er sie schildert, die hart gegen sich waren eben, und nicht konsumorientiert.
Dasselbe gilt dann für den leichten Themenwechsel, den er dann vollzieht in Richtung Herrschaftssoziologie, auch da interessiert ihn eigentlich, wie kann Demokratie und liberales Bürgertum Macht gewinnen, wie soll das aussehen. Insofern kann man sagen, sein Leben im Bürgertum und auch die Vorstellung, zu dieser Schicht zu gehören und sie auch zu bejahen, obwohl er selber wiederum die deutsche Mentalität gehasst hat, die war ihm zu bequem, zu träge, zu luxurierend. Heute würde man sagen, zu wohlfahrtstaatlich orientiert, schon damals, obwohl es den Wohlfahrtstaat noch nicht gab. Also, diese Dimension, dieser Schicht, wenn man so will, eine Forschung an die Seite zu stellen, die ihr Recht auf Macht begründete, da gibt es durchaus Impulse, die eben auch aus dem Leben kommen.
Karkowsky: In diesem Jahr nun jährt sich der Geburtstag Max Webers zum 150. Mal. Und Sie sagen selbst, in Ihrem letzten Kapitel, dass Webers Werk eigentlich nicht origineller war oder durchdachter als das anderer Vordenker der Soziologie, wie etwa das von Georg Simmel. Warum aber hat sich Weber durchgesetzt, warum ist er nun der prominenteste Vertreter seiner Zunft geworden?
"Projektionsfläche für ganz unterschiedliche Weber-Deutungen"
Kaube: Nun, da gibt es einmal so eine Art Exportgeschichte. Es gibt einen amerikanischen Studenten, Talcott Parsons, der das Ganze in Heidelberg gelernt hat, mit nach Amerika gebracht hat und dort praktisch als vorbildliche Soziologie präsentiert hat. Und die Soziologie macht ihre Karriere in der Welt der Wissenschaft eigentlich über das Amerika der 30er-, 40er- und 50er-Jahre. Das ist der eine Grund. Das andere ist gerade das Fragmentarische an Webers Werk, jeder konnte etwas darin finden. Das war eine sehr gute Bedingung für die Verbreitung des Interesses an diesem Werk. Es war nicht vollständig, man konnte weiterarbeiten damit und es war die Projektionsfläche für ganz unterschiedliche Weber-Deutungen. Sie finden Leute, die sagen, ja, das ist ein tragischer Soziologe. Dann sagen andere, nein, das ist der Begründer der Rational Choice, also der Schule des egoistischen Nutzenkalküls in der Soziologie, das ist jemand, der die Soziologie begründet. Andere sagen, nein, das war ein Antisoziologe.
Also, dieser ganze Streit, wenn man so will, was ist mit diesem Werk eigentlich los, gerade weil er keine Schule gegründet hat, die das Werk verwaltet hat und offizielle Deutungen produziert hat, gerade das führte dazu, dass jeder etwas damit anfangen konnte. Und dann ist es natürlich auch die Figur, die immer als eine Art Geheimnis, Mysterium, eine Person ersten Ranges sozusagen angesehen wurde, ein Held selbst. Und auch das trug dazu bei, dass Weber eine Art Ikone der Sozialwissenschaft geworden ist.
Karkowsky: "Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen", so heißt die Weber-Biografie von Jürgen Kaube. Sie erscheint kommenden Freitag im Verlag Rowohlt.Berlin, 496 Seiten kosten 26,95 Euro. Und sie hörten dazu den Biografen selbst, den "FAZ"-Redakteur Jürgen Kaube. Herr Kaube, Ihnen herzlichen Dank für das Gespräch!
Kaube: Ich bedanke mich!
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