Mechanismen der Evolution

"Evolution des Lebendigen" heißt ein Buch, das auf Basis einer Ringvorlesung an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen entstand. Wissenschaftler beleuchten in zwölf Beiträgen alle wesentlichen Aspekte der Evolution - bis hin zur kulturellen Entwicklung des Menschen.
"Nichts in der Biologie macht Sinn, außer man betrachtet es im Licht der Evolution", so formulierte ein Genetiker im letzten Jahrhundert den zentralen Anspruch der Evolutionsbiologie. Das hört sich unbescheiden an, doch in der Tat lassen sich weder die Baupläne der Lebewesen noch ihr Verhalten noch ihr ökologisches Zusammenwirken begreifen, ohne sich der historischen Dimension des Lebens auf der Erde gewahr zu sein.

Doch wie genau stellen Biologen sich die Mechanismen der Evolution vor? Ein neues Buch aus dem Attempto Verlag, "Die Evolution des Lebendigen", präsentiert zwölf Vorlesungen, die unlängst im Rahmen einer Ringvorlesung an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen gehalten wurden. Ausdrückliches Ziel der Vorlesungsreihe und auch des Buches: Interessierten Laien soll anspruchsvolle Wissenschaft geboten werden.

Schon 150 Jahre ist es her, dass Charles Darwin die Prinzipien der Evolution richtig erkannte. Die zwölf Aufsätze des Buches zeigen, dass Forscher auch heute noch Grundfragen des evolutionären Geschehens diskutieren: Wie konnte sich aus unbelebter Materie Leben entwickeln? Was genau muss im Erbmolekül DNA passieren, damit neue Varianten von Organismen entstehen können? Wie kam es zu der ungeheuren Formenvielfalt des Lebens? Und schließlich: Wie fügt sich die kulturelle Entwicklung des Menschen in das Evolutionsgeschehen ein?

Heute kaum noch vorstellbar: Vor 600 Millionen Jahren herrschten paradiesische Zustände. Das Beutemachen war noch nicht erfunden, es gab weder Jäger noch Gejagte. Fossile Abdrücke aus jener Zeit zeigen seltsame Wesen, die wie gesteppte Luftmatratzen aussahen und nur wenige Millimeter dick waren, dafür aber meterlang. Der Paläontologe Adolf Seilacher präsentiert in seinem Beitrag eine in der Fachwelt umstrittene Theorie: Danach stammen die seltsamen Abdrücke nicht von mehrzelligen Tieren, sondern zeigen gigantische Einzeller ohne Muskeln und innere Organe. Seilach verweist auf die heute noch lebenden Xenophyophoren, Einzeller von immerhin fünfundzwanzig Zentimetern Länge. Mit dem Aufkommen räuberischer Organismen war es mit dem Frieden in der Tiefsee vorbei und die kambrische Artenexplosion begann - nach Seilach vor allem ein ökologischer Umbruch: Das Wettrüsten zwischen Räuber und Beute begann, seither ein wesentlicher Motor evolutionärer Veränderungen.

"To be or not to be – Zur Notwendigkeit von Evolution unter Globalem Wandel" nennt Katja Tielbörger ihren Aufsatz und beklagt darin, dass in der aktuellen Klimadebatte das Evolutionspotential von Tieren, Pflanzen und anderen Organismen selten in Betracht gezogen werde. Mikroevolutionäre Prozesse, so die Tübinger Professorin, räumten vielen Arten durchaus eine reelle Überlebenschance auch angesichts gravierender Klimaveränderungen ein. Tielbörger betont die wichtige Aufgabe der Naturschutzgenetik, die Konzepte der Evolutionsbiologie in den Natur- und Artenschutz einbringt.

Von ganz anderer Seite nähert sich der Theologe Urs Baumann am Ende des Buches dem Thema. "Gott - (Nur) eine Erfindung der Evolution" fragt Baumann und mahnt zur Bescheidenheit: Aussagen sowohl der Naturwissenschaften wie der Religionen seien immer nur Deutungsversuche von Teilwirklichkeiten. Wie akribisch wir die Welt auch immer erforschen - letztlich speist sich alle Empirie in menschliche Vorstellungen und Interpretationen ein. Wissenschaft kann weder die Existenz noch die Nicht-Existenz transzendenter Seinsebenen beweisen. So muss, sagt Baumann, jeder Mensch die Gottesfrage für sich allein beantworten.

Das Konzept des Buches ist gelungen, auch wenn die Beiträge bisweilen populärwissenschaftliches Niveau sprengen. Wenn Günter Wächtershäuser die mögliche Entstehung des Lebens in einer vulkanischen Eisen-Schwefel-Welt diskutiert und seitenweise chemische Formeln darbietet, ist das - so spannend seine Ursuppentheorie sein mag - wohl nur ausgewiesenen Chemie-Kennern zugänglich. Im Fazit jedoch bietet "Die Evolution des Lebendigen" einen anspruchsvollen und verständlichen Einblick in aktuelle Fragen der Evolutionsbiologie - jenseits von Oberflächlichkeit und ideologischen Gefechten.

Rezensiert von Susanne Billig

Oliver Betz / Heinz-Rüdiger Köhler (Hg.): Die Evolution des Lebendigen,
Attempto Verlag, 300 Seiten, 29,90 Euro