Touristen statt Drogen
Wo früher Bandenkriege herrschten und Drogenbarone willkürlich Menschen ermorden ließen, locken jetzt leuchtende Graffitis Touristen herbei. Medellín, Kolumbiens zweitgrößte Stadt, hat den Wandel von der Kokainhochburg zur hippen Metropole geschafft.
Claudia Patricia Valencia Ospina: "Der rote Bau hier ist unser Innovationszentrum Ruta N. Dort entstehen neue Ideen- dank des Zentrums wurden wir zur innovativsten Stadt der Welt gekürt. Und dort ist der Norden: Das Planetarium, der Botanische Garten: eine Gegend zur Erholung und Unterhaltung. Früher war der Norden sehr von Gewalt betroffen. Heute ist er Wahrzeichen für Medellíns Wandel."
Claudia Patricia Valencia Ospina zeigt ihre Stadt gern aus der Luft. Fünfzehn Minuten braucht der Hubschrauber, um die schmale, langgezogene Drei-Millionen-Metropole im Aburrá-Tal zu umfliegen. Die aufgeweckte Stadtführerin arbeitet für das Bureau de Medellín. Eine private Interessengemeinschaft von rund 300 Unternehmern der lokalen Tourismusbranche. Sie alle wollen aus der einst verschrienen Stadt ein attraktives Reiseziel machen.
Einer von ihnen ist der Kölner Markus Jobi, Reiseunternehmer, der Touren ins schicke Ausgehviertel Poblado anbietet. Hier reihen sich Szenekneipen, Restaurants und Boutiquen aneinander. Auf der Plaza herrscht ausgelassenes Treiben.
"2005 gab es hier keinen Tour-Operator, es gab ganz wenige kleine Hotels und es gab keine Gastronomieszene. Ab 2010 sind die ersten internationalen Reiseagenturen hingegangen und haben Medellín in ihre Rundreise mit eingebaut. Da hat die Stadtverwaltung alle Kräfte hineininvestiert, um Medellín wieder auf die touristische Landkarte zu bringen. Und dann, 2013-2014, kam es zu einer Weiterentwicklung: Medellín als Lifestyle-Stadt. Als Innovationsstadt, als gewandelte Stadt, die Gastronomie und Hotels bietet."
Die Marketingkonzepte wechselten in den vergangenen Jahren mehrmals, erzählt Jobi, der seit zehn Jahren in Medellín lebt. Das, was schließlich überzeugte, war jedoch das Motto "Transformación", also Wandel.
In den letzten beiden Jahre stiegen die Besucherzahlen dann auch sprunghaft an: 2015 kamen rund 600.000 internationale Touristen, 34 Prozent mehr als im Vorjahr. 2016 veranstaltete die Stadt den regionalen Ableger des Weltwirtschaftsforums und wurde mit dem World Travel Award ausgezeichnet. Reiseveranstalter Jobi weiß warum:
"Medellín liegt in einem Tal. Im Süden sind die Arbeitsplätze, wo die großen Firmen sind. Im Norden, wo das Tal schmaler wird, sind die Favelas und die ärmeren Viertel. Man hat eine Metrolinie entlang des Flusses Rio Medellín gebaut, um die Arbeitskräfte zu den Arbeitsstätten zu befördern. An jeder Metrostation haben wir auf jedem Gleis zwei Polizisten permanent und eine Putzfrau.
Und jetzt kommt hinzu die Seilbahn. Hier wurde die Seilbahn gebaut ausschließlich als Massenbeförderungsmittel. Damit die ärmere Bevölkerung vom Berg runter kann. Die Innovations- und Transformationsgeschichte Medellíns beginnt mit der Infrastruktur.
Und in einer zweiten Welle ging es um gemeinschaftliche Plätze: Um Parkanlagen, öffentliche Bibliotheken usw. D.h. es geht darum, die Leute aus den abgelegenen Stadtvierteln an das Stadtkonzept anzubinden, damit man sich identifiziert mit der Stadt."
Rolltreppen als Tourismusmagnet
Ein Vorzeigeprojekt der vielbeschworenen Transformation sind die Freiluft-Rolltreppen in der ehemaligen No-Go-Area Kommune 13.
Sechs knallorangene, überdachte Rolltreppen führen zickzackförmig 400 Meter hoch ins schwer zugängliche Armenviertel. Das entspricht 28 Stockwerken. Junge Hiphop-Aktivisten haben die Häuserwände entlang der Rolltreppen in eine Graffiti-Galerie verwandelt. Heute sind sie eine Touristenattraktion. Der 26-jährige Rapper Kavala empfängt mehrere internationale Touristengruppen täglich.
"Ich bin Kavala, meine Mutter nennt mich Dairo. Ich bin 26 Jahre alt, ich habe einen zehnjährigen Sohn und eine zweijährige Hündin. Willkommen in Medellín, willkommen in der Kommune 13!"
Kavala trägt Basecap, sehr weite Jeanshosen und ein T-Shirt mit dem Namen "Comuna 13" in riesigen Druckbuchstaben. Auf den Unterarmen hat sich Kavala sogar die windschiefen Favelas seines Viertels eintätowieren lassen. Geduldig wartet er, bis die Rolltreppe den letzten Touristen auf die nächste Ebene bringt. Dort stellt er ihnen das erste Graffito vor: Eine Elefantenherde vor violetter Savannenlandschaft.
"Die Elefanten sind die Tiere mit dem besten Erinnerungsvermögen. Sie können sich daran erinnern, wann und wo sie einen Familienangehörigen verloren haben und kehren dorthin immer wieder zurück. Und all diese Wörter repräsentieren unser Viertel, die Comuna 13: Stärke, Widerstand, Erinnerung, Einigkeit, Gerechtigkeit, Liebe, Hiphop."
Die Künstler stammen nicht nur aus Kolumbien. Auch Sprayer aus Brasilien, Mexiko und England haben sich in der Galerie verewigt. Kavala erklärt, dass die Graffitis nicht im Verborgenen entstehen. Die Stadtverwaltung sponserte sogar Farben, um 1200 Fassaden und 50 Häuserdächer neu zu gestalten. Auch die Bewohner seien vom Nutzen der Straßenkunst überzeugt:
"Die Menschen haben verstanden, dass die Graffitis wichtig sind. Was findest du denn besser: Ein Junge, der auf der Treppe rumhängt und nichts macht oder ein Junge, der eine Blume an die Hauswand malt? Die Gemeinschaft fragt sogar nach Graffitis. Der öffentliche Raum gehört auch mir, und wenn niemand dagegen ist, kann ich malen, wo ich will. Beim Privatbesitz ist es auch einfach: Ich klopfe an die Tür und frage nach Erlaubnis. Von zehn Personen sagen acht Ja."
Rolltreppe und Streetart haben den Alltag in der ehemals gefürchteten Kommune 13 verändert. Touristen aus Japan, Frankreich oder Australien trauen sich alleine mit teuren Spiegelreflex-Kameras ins Armenviertel.
Vor ein paar Jahren noch undenkbar, erzählt Rapper Kavala. Denn das heutige Vorzeigeviertel war jahrelang Rückzugsgebiet jugendlicher Auftragskiller des Medellín-Kartells und Schauplatz des kolumbianischen Bürgerkriegs. Drogen- und Waffenschmuggler benutzten das Häuserlabyrinth als Versteck. Linke Guerillas kontrollieren Teile des Viertels.
Im Jahr 2002 befriedeten schließlich Spezialkräfte des Militärs die Kommune 13 durch zahlreiche blutige Operationen. Ende vergangenen Jahres schloss die Regierung endgültig Frieden mit den FARC-Guerillas. Staatliche Infrastrukturprogramme sollen jetzt landesweit Wohlstand fördern und die Gesellschaft wieder kitten. Für Kavala sind die Rolltreppen aber auch ein Etikettenschwindel.
"An den Rändern passiert gar nichts! Es gibt etwas Hochtechnologisches neben Häusern, die bei Regen absaufen. Außerdem ist die Strecke zu kurz: Sechs Rolltreppen. Sie erreichen gerade einmal das erste Drittel des Viertels. Sie haben es uns als Gemeinschafts-Projekt übergeben. In Wahrheit ist es ein Tourismusprojekt. Darum sind die Rolltreppen Segen und Fluch zugleich für uns in der Kommune 13."
Der zweifelhafte Ruhm des Pablo Escobar
Wer den Drang nach einem Imagewandel verstehen will, kommt an der düsteren Vergangen Medellíns nicht vorbei. In den achtziger-Jahren hatte hier der skrupellose Drogenkönig Pablo Escobar das Sagen. Escobar beherrschte mit seinem Medellín–Kartell zeitweise 80 Prozent des weltweiten Kokainmarktes. Auf dem Höhepunkt seiner Macht erzielte er einen Wochengewinn von durchschnittlich 420 Millionen Dollar.
Pablo - wie er hier genannt wird - brachte einen bisher ungekannten Luxus, aber auch Skrupellosigkeit und Brutalität nach Medellín. Das Kartell verfügte über hunderte junger Auftragskiller auf Motorrädern. Die sogenannten Sicarios wurden in Armenvierteln wie der Kommune 13 rekrutiert und waren schon ab zehn Dollar zu haben. Wer mit Pablo nicht kooperieren wollte, wurde ermordet.
Heute ist der einstige Drogenkönig die umstrittenste historische Figur und gleichzeitig eine riesige Tourismusattraktion. Der 32-jährige Juan Carlos Vanegas bietet ausländischen Besuchern die "Stadt-Tour Pablo Escobar" an. Die erste Station führt ins mittelständische Viertel Los Olivos. Vor einem unscheinbaren Reihenhaus parkt Juan Carlos seinen Van.
"Wir befinden uns gerade auf der hinteren Seite des Hauses, in dem der Capo der Capos erschossen wurde: Pablo Escobar. Am 3. Dezember 1993, einen Tag nach seinem 44. Geburtstag. Das ist das Fenster, aus dem er sich lehnte. Als die Fahnder Escobar erspähten, brachten sie schnell einen Sprengsatz an der Eingangstür an. Pablo sprang auf das Dach. Dort erwischte ihn ein Schütze."
Escobar war 1993 der meistgesuchte Mann der Welt. Die USA hatten ihn zum Staatsfeind Nr. 1 erklärt. Eine kolumbianische Eliteeinheit, die CIA und die Antidrogenbehörde DEA waren dem Drogenkönig gemeinsam jahrelang auf den Fersen. Die Netflix-Serie "Narcos" verfilmte kürzlich diese Geschichte. Sehr zum Ärger der Stadtverwaltung. Denn die würde am liebsten alles, was an Escobar erinnert, totschweigen.
Doch gegen den Netflix-Hype ist nichts auszurichten. Fasziniert von der Gangster-Romantik kommen Tausende nach Medellín, um sich auf Spurensuche des Kokainkönigs zu begeben. Für Juan Carlos Vanegas ein gutes Geschäft.
"Die Anzahl der Besucher nimmt stetig zu. Der Großteil unserer Kunden ist jung, zwischen 20-30 Jahre alt. Sie sind fasziniert von dem Thema, sie kommen überall her: Europäer, Nordamerikaner, Australier."
Am östlichen Rand Medellíns erstreckt sich an der steilen Wand des Aburrá-Tals das "Barrio Pablo Escobar". Es zählt zu den Highlights der Stadt-Tour von Juan Carlos Vanegas. Hier leben viele, die bis heute nichts auf Pablo Escobar kommen lassen – und das den Besuchern oft und gern erzählen.
"Mein Name ist Jiraldo Montoya. Ich wohne seit 15 Jahren in diesem Viertel und ich habe noch nie eine Person schlecht über Pablo Escobar reden hören. Alle reden gut über ihn, weil er die Leute hier unterstützte. Es wird wohl auch Leute geben, die schlecht von ihm reden. Wir sind doch alle nur Menschen und begehen Fehler, aber haben auch unsere guten Seiten. Und er hatte mehr gute als schlechte Seiten."
Pablo Escobar ließ 1982 hunderte Häuser auf einer Brache errichten und übergab sie feierlich obdachlosen Menschen. Bis heute trägt das Wohnviertel seinen Namen. Auf der zentralen Plaza grüßt das lächelnde Konterfei Ecobars von einer Häuserwand. "Barrio Pablo Escobar, hier atmet man Frieden", steht unter dem Bild.
Vom Platz führen kleine Gassen die steilen Hügel hoch. Es ist Sonntagnachmittag. Die Leute spielen Karten, trinken Bier und hören laute Musik. Die 67-jährige Maria Inés Suarez steht auf ihrer Veranda. Auch sie lebt in einem Pablo-Haus.
"Wir haben vorher auf der Müllkippe gewohnt. An unserer Hütte floss ein offener Abwasserkanal vorbei. Dann haben sie mit uns eine Befragung durchgeführt und uns hierher gebracht. Pablo wurde damals schon verfolgt. Für mich hat Pablo Escobar also viel getan. Das, was die Regierung nie gemacht hat oder irgendwer anders. Und das Böse, was er gemacht hat – na ja, dazu kann ich nichts sagen."
Kreativer Unternehmergeist
Zurück im Ausgehviertel von Medellín, Poblado, gerade einmal zehn Autominuten vom Barrio Pablo Escobar entfernt. In der Einkaufsstraße Via Primavera blickt man mit kreativem Unternehmergeist in die Zukunft. Die Textilunternehmerin Paula Bentancour betreibt seit fünf Jahren die Modegalerie MAKENO:
"Makeno ist ein Laden, der das nationale Talent unterstützt und einen Lebensstil anbietet. Unser Raum umfasst 90 unterschiedliche kolumbianische Marken. Wir bieten Design im urbanen Kontext an und setzen auf die Charakteristik junger Kleinunternehmer."
Riesige Schaufenster durchfluten die 500 Quadratmeter große Modegalerie mit Tageslicht. Die Inneneinrichtung ist bewusst minimalistisch gehalten: Auf schlichten Eisenrohren und in selbstgezimmerten Holzkästen stellen die jungen Designer ihre Accessoires und Kleidungsstücke aus.
Camilo Alvarez stellt schon seit acht Jahren elegante, aber sportliche Alltagsmode her. Der 31-jährige hat heute acht Angestellte und verkauft in Panama, Mexiko und den USA. Entwurf, Produktion und Vertrieb bleiben in den Händen des kleinen Teams, erzählt Alvarez.
"Das, was man früher als Nachteil empfunden hat, eine kleine Firma zu haben, ist heute unser großer Vorteil. Seit zwei Jahren betreiben wir ein neues Modell des Direktvertriebs. Die Kunden können sich unsere Kleidungsstücke auf der Homepage aussuchen und wir bringen ihnen das Paket direkt nach Hause. Der Kunde probiert alles in Ruhe an und wir holen die Ware, die er nicht haben möchte, wieder ab. Unser Netzwerk ist schnell gewachsen. Diesen persönlichen Service bieten wir in Medellín an. Der gewöhnliche Versand funktioniert landesweit über unsere Homepage."
Camilo Alvarez ist in Medellín geboren und hat seine Jugend in den von Gewalt geprägten Neunziger-Jahren verbracht. Wie würde er den Zeitgeist seiner Generation beschreiben?
"Ich spüre, dass unsere Generation voller Unternehmergeist ist. Du siehst hier einen Haufen Produkte von Leuten, die unabhängig arbeiten. Früher war die Industrie dieser Stadt immer in den gleichen Händen. Heute gibt es viel mehr Kleinunternehmer. Das verschafft eine andere Dynamik. Wir haben das Image von Medellín gewandelt und blicken auf die nächste Etappe. Wir gestalten die Gegenwart."